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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Ihn nicht in der Weise, wie wir sichtbare Menschen lieben. Die Liebe zu sichtbaren Wesen ist lebhafter, rühriger, auffallender, die Liebe zum unsichtbaren Gott ist stiller, aber auch tiefer, weniger geschäftig, aber drum nicht weniger mächtig, weniger auffallend im gewöhnlichen Leben, aber dennoch wahrhaftig und wenns gilt, jeder Aufopferung, jeder Schmach, jedes Todes fähig. Oder ist es nicht so? Es mag bei vielen unter euch, die hier sitzen, nicht also sein; aber ists nicht doch so bei Christen, die den Namen mit Wahrheit tragen? Wenn nun diese wißen, daß sie den HErrn, ihren Heiland also lieben, was hindert sie denn, die Worte: „Er Selbst, der Vater, hat euch lieb“ − auf sich zu beziehen? Doch nicht Neid und Hohn der Welt? Wenn sie der ewige Vater liebet, was kümmert sie die Welt? Und wenn Er sie liebt als Vater, warum wollte dann der Vaternamen nicht aus dem Herzen, von den Lippen? Ist denn nicht Pfingsten, seitdem der HErr aufgefahren ist? Welcher Jünger hat aber nach Pfingsten noch gezweifelt also, daß er verzweifelte? Zwar sagten die Jünger wohl: „Wir glauben, daß Du von Gott ausgegangen bist, − Du weißest alle Dinge, Du bedarfst nicht, daß Dich jemand frage, − Du redest frei heraus. Du sagst kein Sprichwort“ − und wurden hernach dennoch wieder betrübt und irre, als sie Ihn sterben sahen. Aber wir, die wir Ihn nicht mehr sterben sehen, die wir wohl wißen, daß Sein Tod nach richtiger Betrachtung ein Werk von ewigem und unaussprechlichem Ruhm gewesen ist, das der Vater durch die Auferweckung geehrt hat! Wir, hinter denen achtzehn hundert Jahre voll Erfahrung göttlicher Gnade und Erbarmung liegen, wir sollten zweifeln, wir wollten zweifeln? Das sei ferne! Des Vaters Liebe erwecke mächtig unser Vertrauen, und unsre Liebe zu Ihm werde kindlich, fröhlich und freimüthig durch das süße Wort: „Der Vater hat euch lieb.“ Wir wollen aufstehen vom trägen Sitz und wollen unsern Schmuck anlegen, uns kleiden in den Rock der Gerechtigkeit und in die priesterliche Zier: wir wollen unsre Füße waschen und unsre Hände reinigen, daß wir sie aufheben können sonder Zorn und Zweifel, und dann wollen wir priesterlich im Namen des Hohenpriesters beten. Und weil unser keiner allein ist, weil Sich der HErr ein priesterlich Volk erkauft hat, eine Gemeinde, die an Ihm hängen soll, wie am Haupte der Leib, durchdrungen von dem Einen Geist des Hauptes; so wollen wir im Namen JEsu auch nicht allein in unsern Kammern beten, sondern wenn wir zusammen sind in dieser Hütte Gottes, da werde im Namen JEsu das „Abba, lieber Vater“ gebetet wie ein Strom, − da rausche das Gebet aufwärts mit Macht und die Erhörung komme uns mit göttlicher Gewalt!


 So können und dürfen wir also beten, wir, die wir glauben, die wir unsern HErrn lieben, zu denen Er nicht mehr in dunkeln Sprüchen redet, die wir Seines Herzens Sinn und Meinung recht verstehen. − Aber freilich, wenn wir auch in Demuth, nicht in eitler Selbsterhebung sprechen dürfen: „Wir können beten,“ wenn wir schon fröhlich wie Engel vor Gottes Angesichte stehen und das Gebet in JEsu Namen üben: so haucht uns doch auch wieder Traurigkeit und Wehmuth an, wie naßer Herbstwind, wenn wir um uns schauen und sehen, wie wenige mit uns beten, wie finster es bei so vielen unter unsern Nachbarn ist. Wie viele wandeln im Dunkeln, wie viele hören und verstehen nicht, was JEsus in Seinem Worte spricht! Ach es sind so viele, vor denen das gesammte Reich unsers HErrn JEsus wie eine nächtliche Wüstenei liegt, weil es in ihnen finster ist, weil Sündenliebe sie beherrscht. Solche verstehen nicht, was wir, glauben drum auch nicht mit uns, lieben nicht mit uns und beten auch nicht mit uns! Wer ein Knecht der Sünde ist, kann überhaupt nicht beten, geschweige in JEsu Namen beten. − Was sollen wir thun? Laßt uns in JEsu Namen beten für diejenigen, welche nicht in JEsu Namen beten können. Zwar hilft denen kein Gebet, die der Fürbitte widerstreben und wider das Annahen des Geistes Gottes kämpfen und wider die gütigen Kräfte der zukünftigen Welt. Aber es hat der Mensch seine Stunden, in denen er minder widerstrebt, und der HErr kennet diese Stunden und möchte etwa in solchen Stunden auf unser Beten siegreich und mit Erhörung kommen! Wir wollen beten und es ja nicht unterlaßen! − Wir wollen aber auch für uns selber beten. Denn wie der Mensch seine beßeren Stunden hat, so hat er seine schlimmeren. Wie ihm in jenen der HErr kräftiger nahet, so naht ihm in diesen kräftiger der Teufel. Laßt uns beten, daß uns der Feind nicht übermanne, daß wir siegen können.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/231&oldid=- (Version vom 4.9.2016)