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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

diese Erfahrung wird das Gebet im Namen JEsu zu einer so majestätischen und wunderbaren Handlung, daß man sich ihrer scheut und fürchtet. Man weiß, daß man so klein und nichts ist, und findet sich in dem Gebet so hoch erhaben, so weit über die eigene Höhe hinaus erhöht. Da fragt man denn immer und immer wieder mit klopfendem Herzen: „Darfst du denn wirklich? Frevelst du nicht?“ Und wenn das der Geist der Anfechtung gewahr wird, so säumt er nicht, er schießt mit seinen Pfeilen drein und macht die Verwirrung vollends unerträglich. Es ist drum nöthig, sich für das böse Stündlein in dieser Lehre recht fest zu gründen. Diese Gründung und Begründung sei, geliebte Brüder, das Letzte, wovon wir heute noch miteinander sprechen.

 Unser Recht, in JEsu Namen zu beten, beruht erstens − damit ich wiederhole, was schon angedeutet ist, auf dem Hingang JEsu Selbst. Er hat unsre Sünden im Anfang Seiner Heimkehr durch Sein Leiden und Sterben gebüßt. Alle unsre Missethat ist versöhnt − und vergeben ist dem, der an Christum glaubt. Kein Fluch mehr haftet an der erlösten Seele. Keine Strafe wartet ihrer. Kein Zorn ist mehr im Himmel. Das Auge Gottes ruht mit Wohlgefallen auf ihm. So gewis der HErr auferstanden und eingesetzt ist als König auf Seinem heiligen Berg Zion, so gewis ist das, und wir dürfen uns deshalb unserer Unwürdigkeit wegen nicht fürchten, ins Allerheiligste zu gehen.

 Und ob wir uns auch fürchteten trotz deßen, was wir eben sagten, so haben wir doch den Befehl unsers HErrn JEsu. Er hat es befohlen, daß wir ins Allerheiligste gehen und in Seinem Namen beten sollen. So hat Er gesagt, Sein Apostel hat es aufgezeichnet, Seine Kirche hat es Jahrtausende geglaubt, kein Mensch hat es widerlegt, die ganze Hölle hat es nicht umzustoßen vermocht, trotz ihres Zähneknirschens und aller Anfechtungen haben es viele Tausende gethan und erprobt. Es ist also der bestimmte, und nicht bloß der bestimmte, sondern auch der gesegnete Wille des HErrn. Was sollen wir uns also fürchten, Seinen Willen zu thun? Ihn nicht zu thun, müßten wir uns fürchten; aber ihn zu thun, da braucht es keine Furcht. Auf Sein Wort wagen wir die große Seligkeit mit Furcht und Zittern: Wir sind nicht frech, nicht frevelhaft, nicht hochmüthig, wenn wirs thun. Gehorsam, der von Herzen kommt, ist Demuth! Wer glaubt, der thue, was ihm der HErr befiehlt, und freue sich in dem HErrn.

 Es ist freilich wahr, geliebte Brüder, der Mensch ist schüchtern, und wenn man recht bedenkt, was es heißt, in JEsu Namen beten, so muß man ja erschrecken. Dafür geht er aber auch nicht allein ins Heiligtum und zum Vater. Er geht in JEsu Namen, im Vertrauen auf JEsu Hingang, auf JEsu Befehl; aber JEsus geht auch Selbst mit ihm. Zwar spricht der HErr: „Ich sage euch nicht, daß Ich den Vater für euch bitten werde;“ aber das heißt ja nicht: „Ich bitte nicht für euch,“ das ist ja keine Aufkündigung, keine Niederlegung Seines hohenpriesterlichen Amtes. Er redete nur nicht in unsrer Stelle von Seinem Amte, Er wollte nur unser Gnadenrecht zum Gebete aufs Stärkste hervorheben; aber damit ist nicht aufgehoben, was durch andere Stellen der heiligen Schrift unerschütterlich fest steht. Keines unter allen Gottesworten kann gebrochen werden, jedes steht fest. Der HErr hat es gesagt und Seine Apostel lehren es, daß Er für uns bitten und unser Fürsprecher sein werde; darum wißen wir auf das allergewisseste, daß wir im Gebete vor Gott nicht allein stehen. Der HErr steht bei uns und so oft wir in Seinem Namen beten, betet Er neben uns in unserm Namen, wiewohl in eigener Würdigkeit. Das unterliegt keinem Zweifel mehr. Wenn es uns also zu hoch, zu groß dünken will, vor den HErrn zu treten; so wißen wir ja, wer uns unterstützt, neben wem wir im Geiste stehen, wer ohne Zweifel neben uns steht. Warum also zagen und klagen? Laßet uns fröhlich zum Gnadenthron treten und beten!

 Und wenn uns dennoch das „Abba, lieber Vater“ nicht vom Herzen, vom Munde sich lösen will, wenn uns der Hingang JEsu und deßen Ueberlegung nicht fröhlich und kräftig genug macht, vor Gott zu treten, Befehl und Unterstützung JEsu uns nicht ermuthigt; so vollführe in uns das Wort des HErrn JEsu Seinen Willen, nemlich das Wort: „Er Selbst, der Vater, hat euch lieb, darum daß ihr Mich liebet und glaubet, daß Ich vom Vater ausgegangen bin.“ Lieben wir denn unsern HErrn nicht? Ist Er nicht unser Hort? Was in aller Welt ist, das uns theurer wäre? Der Gedanke an Ihn ist mehr als alles andere, geschweige Er Selbst und Seine allerheiligste, ewig nahe Person. Es ist wahr, wir lieben

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/230&oldid=- (Version vom 4.9.2016)