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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sein. Jeden Falls aber stärken sich die Glieder der Kirche Christi an den Worten Christi, und ihrem Glauben wird durch Erinnerung an sie und Berufung auf sie neues Oel zugeführt. Für diese ist auch alles gesprochen, was ich meinem Texte nachgesprochen habe, und ihnen wird, wie alles Wort unsers Herrn, auch der Schluß unsers Textes gefallen, die Vermahnung Jesu zur Bereitung auf Seinen Tag. − Da wir nicht wißen, wie weit die Zeit vorgeschritten ist, welche Stunde der Welt geschlagen hat; da deshalb der Tag des HErrn jederzeit kommen kann, da Christus, was noch fehlt, eben so gut in Tagen, wie in Jahrtausenden vollenden kann; so muß es eines jeden Christen höchste Angelegenheit sein, zu entfliehen allen Schrecken des drohenden jüngsten Tages und stehen zu können vor des Menschen Sohn. Unser ganzes Leben soll ein Wandel vor dem Angesichte Deßen sein, der da kommt: Ihm entgegenwandeln sollen wir allewege − und in Bezug auf Ihn, auf Seine Zukunft und die Ewigkeit soll in uns alles, soll jede Minute unsers Lebens stehen. Unser ganzes Leben soll ein Baum sein, der seine Wurzeln am Throne Deßen eingeschlagen hat, der da kommt, dem der Boden jener Welt Saft und Kraft zuführt, von welchem nichts hienieden ist, als Frucht und Schatten. Da wirs dahin kaum bringen werden, sollen wir wenigstens handeln und wandeln als die Davoneilenden, der Welt Entfliehenden, einer beßern Welt Wartenden. Nicht traurig, da wir ja alle Tage etwas mehr von dem Leide hinter uns bringen, das uns zugemeßen ist, sondern fröhlich, weil wir dem Tage Christi täglich näher kommen, sollen wir leben und jede uns gereichte Erdengabe als Bild und Pfand jener ewigen Gaben, deren wir warten, an uns nehmen und gebrauchen. Unsre fröhlichen Herzen sollen immer näher und lauter den Ruf vernehmen: „Steht auf, der Bräutigam kommt!“ − Sollen wir denn alleine so? Wollen wir nicht auch? Sind wir denn nicht Schafe Seiner Weide, geliebte Brüder? „Freßen und Saufen, wovon das Herz beschwert wird“ − sind das Dinge, welche wir im lebendigen Glauben an Den erwählen können, der da kommen wird, der gewis kommen wird? Das werde von uns nicht gesagt, das sei ferne von uns, davon reinige, davor behüte uns Er selber durch die Kräfte der zukünftigen Welt! Alles, was das Herz beschwert, was es hindert, dem Herrn entgegenzugehen, das werde ab- und ausgeworfen, das werfe Jesus ab und aus! Er werfe auch die Sorgen aus, welche das Herz beschweren, diese Lasten, welche um Mitleid rufen und keines verdienen, die da sterben und ausgerottet werden sollen, denn sie sind Sünden, − die ganz werth sind, von dem untrüglichen Richter alles erborgten Scheines entwürdigt und in Eine Reihe mit dem Saufen und Freßen gestellt zu werden. − Dagegen verleihe ER uns, „wacker zu sein allezeit“. Wacker, wachsam sein, ja das geziemt denjenigen, welche auf den Tag warten, der da kommen soll. Wer schont seine Nächte, wem kommt der Schlaf, wenn er seinem Freund entgegengehen darf? Wer schont sein Auge, wer sammelt nicht alle Kraft und allen Scharfblick, wenn er den Weg weiß, auf welchem ein ersehnter Mensch herbeikommen soll? Wie ist dann im Auge das ganze Leben, die ganze Geschäftigkeit der Seele! Und wir sollten Sein nicht warten, den wir über alle Menschen lieben? Laßt uns doch wacker sein! Jede Stunde sei Des, der da kommt. Keinerlei Leidenschaft benebele uns, nehme uns die Fähigkeit, jede Stunde als eine Stunde des möglichen Kommens Jesu zuzubringen! − „Seid wacker allezeit − und betet!“ Wir wollen, wie wir sollen. Wir fürchten aber, daß wir, wie die Jünger in Gethsemane nicht möchten wachen können. Wir könnten leicht entschlafen, leicht die heilige Nüchternheit, leicht Eifer und Geduld zu wachen verlieren! Es könnte uns leicht das Ziel verrückt werden, dem wir entgegen leben, und dafür ein irdisches, sündliches an die Stelle treten! Wenn dann der Herr käme und wir wären nicht wacker, sondern eingelullt in Leidenschaft, in Weltgenuß, in Sorgen! Auf, laßet uns beten! Betet! Betet, daß der HErr komme, daß er die Zeit des Wachens verkürze, die Versuchungszeit beschließe, daß er bald komme. Der Geist und die Braut sprechen: „Komm, − komm bald, HErr Jesu!“ Betet, wie der Geist und die Braut beten! Betet, daß ihr würdig werden möget, zu entfliehen diesem allen und zu stehen vor des Menschen Sohn! Betet, daß ihr bewahret werdet vor Sorg und Lust, daß ihr wacker sein könnet, daß ihr beten könnet allezeit. „Betet“, sagt der HErr, und nicht „Bete!“ denn Er will nicht, daß einer allein, sondern daß alle, alle für einen und einer für alle beten um das Heil des jüngsten Tages! Alle für einander − und alle mit einander, denn vor Ihm sind sie alle versammelt und vereinigt. Wir sind

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 012. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/23&oldid=- (Version vom 14.8.2016)