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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Worte darauf hin, daß Seine Jünger, so viel Günstiges von ihnen auch Seine letzten Reden Joh. 15–17. enthalten, noch immer nur als Anfänger im Erkennen und Leben anzusehen seien. Eben deswegen aber will Er sie nicht als unberathene Waisen hinter Sich laßen, sondern ihnen den Tröster, den Geist der Wahrheit, geben, von dem Er spricht: „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, Der wird euch in alle Wahrheit leiten.“ Die Wahrheit ist in diesen Worten dargestellt als ein weites, herrliches Land voll Reichtums und Herrlichkeit, als ein Gottes-Paradies; die Jünger des HErrn sind wie Pilgrime, die immer weiter hinein gehen und die Schätze genießen sollen, und der sie hineinführen soll ist der Geist des Landes, der Geist der Wahrheit. Erst lehrt Er die Jünger JEsu Reden, Seine Thaten, Seine Leiden, Seine Auferstehung, Seine Herrlichkeit, − dann lehrt Er sie alles recht verstehen, aus den Reden Schlüße ziehen, wie es Menschen nicht vermögen, aus den Thaten und Leiden Gottes Herz und Sinn erkennen: was sie unter ihrem göttlichen Meister gesehen, gehört, gelernt haben, das macht Er ihnen zum unabsehbaren Quell und Strom göttlicher Erkenntnis und auch die Zukunft wird ihnen aufgethan. Eben so thut Er auch uns. Erst lehrt Er uns kennen, was die Apostel sahen und hörten, was in den Evangelien steht; dann führt Er uns aus den Evangelien in die Apostelgeschichte und in die Episteln, zur Kenntnis Seines sproßenden, wachsenden, blühenden, früchtetragenden, sich weit ausbreitenden Lebensbaumes, zur Erkenntnis der Höhe und Tiefe, der Länge und Breite. Da finden wir dann, je länger, je mehr bestätigt, was der HErr gesagt hat: „Der Geist der Wahrheit wird nicht von Ihm Selbst reden, − Er wird es von dem Meinen nehmen und euch verkündigen.“ Je weiter hinein wir in die apostolischen Schriften gehen, desto mehr bewähren sich uns Christi Reden. Vom Anfang bis zum Ende der apostolischen Schriften stimmt alles auf das harmonischeste zusammen und immer bleibt Christi Person und Werk die Sonne, von welcher alles Licht ausgeht und zu welcher es zurückströmt. Das alte Bild in immer neuem Glanze, die alte Wahrheit in immer neuen, himmlischen Gedanken wird erkannt − und selbst das Zukünftige wird uns eröffnet. Das Zukünftige ist nichts anderes, als was im Himmel ist, und was in der Fülle der Zeit je mehr und mehr heruntersteigt zu uns: droben ist es wohnhaft, droben ist es Besitz, hier ist es Gast und Hoffnung. Diese zukünftige Welt wird uns vom Geiste erschloßen. Wenn wir in vorangegangenen Schriften des neuen Testamentes erstarkt sind, Kräfte der zukünftigen Welt in unsre Seelen aufgenommen haben, dann werden wir eingeleitet in die wundervolle Offenbarung St. Johannis, wo es völlig in Erfüllung geht, was der HErr spricht: „Was zukünftig ist, wird euch der Geist des HErrn verkündigen.“ − So fließt die Wahrheit vom Vater zum Sohne, von Diesem zum heiligen Geiste, von Diesem auf die Apostel. Diese rühmen: „Wir haben es von dem HErrn empfangen,“ und leiten fröhlich das Gewäßer der Erkenntnis weiter, bis es die Völker bedeckt, wie das Meer der Erde Gründe bedeckt, und bis alle Lande der Ehre und Lehre Gottes voll sind. Und von einer Zeit zur andern strömt Wahrheit und Erkenntnis weiter. Jede Zeit, die auf eine vorausgegangene folgt, hat ihre Gnadengabe an Erkenntnis, und je näher dem Ende und der himmlischen Verklärung die Kirche kommt, desto reicher und voller wird ihre harmonische dem Altertume entstammte Erkenntnis. Immer Eine, schreitet sie immer vorwärts, von einer Klarheit zur andern; je länger je mehr wird sie dem Schauen ähnlich, bis endlich das Schauen kommt, das alles übertrifft, selbst die letzte, höchste Stufe der Erkenntnis. Denn es ist alles Wißen auf Erden nur Stückwerk; wenn aber kommen wird das Vollkommene, dann hört das Stückwerk auf.

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 Diese Einführung der Christenheit zur immer volleren Erkenntnis ihres Heils wird auch als eine Verklärung JEsu dargestellt. „Der heilige Geist wird Mich verklären, denn von dem Meinen wird Ers nehmen und euch verkündigen,“ spricht Christus. Der Geist verklärt JEsum, indem Er Seine Worte in ihrem vollen Reichtum auslegt. Je mehr der heilige Geist JEsu Worte auslegt, desto wunderbarer erscheint JEsu Weisheit, welche für die Anfangsstufe Seiner Jünger Worte und eine Darstellung wählen konnte, die so einfältig und dennoch von einer solchen Fülle sind, daß sie eine unaussprechlich reiche Auslegung finden können. Eben damit wird aber auch Christus Selbst, Seine allerheiligste Person vor Seinen Heiligen verklärt. Wenn Er es vermag, in aller Einfalt Worte zu reden, welche für alle Apostel, ja für alle Lehrer, alle Zeiten,

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/223&oldid=- (Version vom 4.9.2016)