Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres | |
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auch noch manch andrer, einzelner Umstand unwiderleglich. Ich will der Zeichen schweigen, von denen St. Johannes V. 30. im Vorübergehen spricht, ich will statt vieler Dinge ein einziges erwähnen, nemlich den Beweis von Allwißenheit, welchen der HErr bei Seiner zweiten Erscheinung gegeben hat. Oder war es etwas anderes als Allwißenheit, was Ihm Thomä Zweifel und Reden offenbarte? Was Thomas im Kreiße seiner Mitapostel gesagt, welche Bedingungen des Glaubens er gesetzt, wie er einen Beweis aus der Hände Fühlen gefordert hatte, woher wußte es der HErr? Die Worte: „Reiche deine Finger her und siehe Meine Nägelmaale, und reiche deine Hand her und lege sie in Meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig“ − sind ganz göttlich, triefen von Allwißenheit und üben auf den einfältigen Leser noch heute denselben Einfluß aus, wie auf den heiligen Thomas, sie ziehen auf die Kniee nieder, sie heben die Hände zur Anbetung auf, sie entführen dem Herzen und den Lippen dieselben Worte, denselben Ausruf: „Mein HErr und mein Gott!“
Zwar wir haben den HErrn nicht gesehen wie Thomas und können Ihn nicht sehen; wir können nicht Finger und Hände in Nägelmaale und Wunde legen: aber Er ist dennoch bei uns und umgibt uns mit Seiner göttlichmenschlichen Gegenwart, wie uns die Luft umgibt und das treue Zeugnis der heiligen Apostel reinigt die Augen unsers Glaubens, daß wir des unsichtbaren HErrn dennoch gewahr werden, uns an Ihn halten, Sein genießen und sprechen: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ Was fehlt uns im Grunde? Das Zeugnis der Sinne ist uns verweigert, das unsre Gewährsmänner, die heiligen Apostel hatten; außerdem haben wir aber auch alles, Hoffnung und Gewisheit der Auferstehung und des ewigen Lebens. Im Vollgenuße aller Seiner Güter sollen wir nur nicht schauen und durch kleines Verzichten auf das Zeugnis unsrer sterblichen Augen uns vorüben und bereiten auf das selige Schauen mit verklärten Augen. Es ist unser Loos nun nicht geringer, als das der ersten Menschen im Paradiese; sie sollten der Erkenntnis Gutes und Böses entbehren, alles andere sollten sie haben; wir erkennen Gutes und Böses, wir sind zum Guten erneut und über ein Kleines soll uns die Seligkeit der Apostel, die des Schauens, auch gegeben werden, und unsre ganze Entsagung besteht in einer kleinen Wartezeit. Da können wir uns in den Staub legen und zufrieden, ja wonnevoll rufen: „In Deine Nägelmaale lege ich meine Finger nicht, nicht meine Hand in Deine Seite, aber Du bist mein HErr und mein Gott!“
Unter den Beweisen für die göttliche Majestät Christi hätte ich, meine theuern Brüder, eben so gut auch die Früchte der Auferstehung anführen können, welche uns dieß Evangelium benennt. Als der auferstandene HErr unter Seine Jünger trat, da gab Er Friede, Apostolat, Geist und Schlüßelamt. Jede von diesen himmlischen Gaben ist ein Beweis Seiner Gottheit. Er kann nicht geben, was niemand hat als Gott, wenn Er nicht Gott ist. Göttliche, seligmachende Gaben schüttet Er bei Seiner ersten Erscheinung Seinen Jüngern in den Schooß. Von einer jeden unter ihnen könnte man singen und sagen ein ganzes Leben; viel zu kurz für deren Werth ist alles, was wir hier dankend von einer jeden rühmen können.
„Friede sei mit euch,“ war des HErrn erstes Wort an Seine Jünger nach Seiner Auferstehung, und Seine erste Ostergabe ist also der Friede. Denn ein bloßer Gruß, der ohne Wirkung an den Gegrüßten vorübergegangen wäre, war der Friedensgruß unsers HErrn JEsus nicht; wovon die Worte lauten, das bringen sie mit sich. Er, der Matth. 10, 12. 13. Seinen Jüngern befiehlt, die Einwohner der Häuser zu grüßen, die sie betreten würden, und ihnen verheißt, daß auf die Würdigen der Friede kommen werde, mit dem sie gegrüßt werden, daß Er aber von den Unwürdigen zu den grüßenden Aposteln zurückkehren solle, − der also dem Friedens- und Segensgruße Seiner Knechte eine große Kraft und Wirkung beilegt und beilegen konnte, wird ohne Zweifel Seinem eigenen Friedensgruße nicht mindere Kraft und Wirkung beigefügt haben. Und da Er vor Seinem Leiden schon Joh. 14, 17. Seinen Friedensgruß von den eiteln, ohnmächtigen Friedensgrüßen der Welt unterschieden und gesagt hatte: „Den Frieden laße Ich euch, Meinen Frieden gebe Ich euch, nicht gebe Ich euch, wie die Welt gibt;“ so wird Er im Leben der Majestät, deßen Er durch die Auferstehung theilhaftig geworden war, gewis nicht anderer Meinung geworden sein und den Gruß Seiner verklärten Lippen nicht hinter den Gruß
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/203&oldid=- (Version vom 4.9.2016)