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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und tritt mitten ein und spricht: Friede sei mit euch! 27. Darnach spricht Er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und siehe Meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in Meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig. 28. Thomas antwortete und sprach zu Ihm: Mein HErr und mein Gott! 29. Spricht JEsus zu ihm: Dieweil du Mich gesehen hast, Thoma, so glaubest du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. 30. Auch viele andere Zeichen that JEsus vor Seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. 31. Diese aber sind geschrieben, daß ihr glaubet, JEsus sei Christ, der Sohn Gottes, und daß ihr durch den Glauben das Leben habt in Seinem Namen.


 NOch ists Ostern, noch redet das Evangelium des Tages von der Auferstehung Christi und von deren Gewisheit und Segen. Ja noch ists österliche Zeit! Gleichwie die Jünger den Ostertag nicht vergeßen konnten und am wiederkehrenden ersten Wochentage sich in Erinnerung aller der Gnade versammelten, welche sie acht Tage zuvor empfangen hatten; so klingt auch in unserm Herzen das Osterhalleluja des vorigen Sonntags noch wieder; unsre Ohren horchen drum gerne auf den Inhalt des Evangeliums, unser Sinnen und Denken geht mit des HErrn Gedanken in Seinem Worte schön zusammen. Des sind wir fröhlich! Laßt uns bei diesem schönen, euch verlesenen Texte niedersitzen, wie zum Mahle, und der HErr speise uns innerlich, indem wir Ihn betrachten!


 Zweierlei Erscheinungen erzählt uns dieß Evangelium: die erste geschah am Ostertage selbst, die zweite aber acht Tage darnach, so daß wir gerade heute das Gedächtniß der letzteren feiern. Beide Male erschien der HErr Seinen Jüngern unerwartet und plötzlich, hinter verschloßenen Thüren und ungeachtet derselben. Beide Male offenbarte Er sich in einer Art, welche uns einen dreifachen Beweis liefern kann, den ersten für die Verklärung, die Sein Leib erfahren, den zweiten dafür, daß der Leib am Kreuz und der Leib der Auferstehung einer und derselbe gewesen, und den dritten für die Gottheit JEsu.

 Daß es ein verklärter Leib war, in welchem der HErr erschien, ergibt sich genugsam aus dem Umstande, daß Er beide Male bei verschloßenen Thüren zu Seinen Jüngern kam, daß Er nicht als ein durch die Thüre hereintretender, sondern als ein plötzlich mitten in der Versammlung stehender erschien. Der Todesleib ist dazu ganz untauglich, er wird durch Thüre, Schloß und Riegel aufgehalten, er kann auch nicht unbemerkt mitten in eine Versammlung treten. Nur der neue Leib der Auferstehung kennt kein Hindernis der Elemente; nur ihn hält nichts auf, zu erscheinen, wo der Geist, der in ihm wohnt, es will. Das bemerken wir einstweilen im heutigen Evangelio und sehnen uns mit allen denen, die im HErrn entschlafen sind, nach der gleichen, herrlichen Vollendung des Leibes, bis sie uns in der Auferstehung zu Theil wird.

 Indes können wir den Beweis für die verklärte Herrlichkeit des Leibes Christi mit wenigen Worten abfertigen, während wir jenem andern, daß der Todesleib am Kreuze und der Leib der Auferstehung einer und derselbe gewesen, eine längere Zeit widmen müßen. Denn der erste leistet nichts, wo der andere nicht geführt ist, − von dem andern nimmt der erste seine volle Glaubwürdigkeit. Daß nun aber wirklich derselbe Leib auferstand, der am Kreuze gehangen war, geht zu unserer seligen Ueberzeugung aus unserm Evangelium deutlich hervor. Zu unsrer seligen Ueberzeugung, sage ich; denn hätte Christus bei Seinen Erscheinungen einen zweiten Leib gehabt, nicht den, welcher am Kreuze gehangen; so würden wir, die wir Ihm aller Dinge ähnlich werden sollen, auch nicht denselben Leib, von welchem die Seele sterbend scheidet, zu erwarten haben, sondern einen zweiten; dann wäre der Tod ein Scheiden der Seele vom ersten Leibe und ein Abschied auf Nimmerwiederkehr; man könnte dann von einer Auferstehung gar nicht mehr reden, sondern nur von einer zweiten Schöpfung des Leibes. Aus dem dritten Artikel müßte dann gerade der Theil ausgeschnitten werden, welcher dem Menschenherzen der freundlichste und heimatlichste ist, und ausgesungen wäre das Triumphlied des Menschen: „Dieser meiner Augen Licht wird Ihn, meinen Heiland, kennen; ich, ich selbst, kein Fremder nicht werd in Seiner Liebe brennen; nur die Schwachheit um und an wird von mir sein abgethan.“ Man sieht wohl, daß es nicht gleichgültig ist, ob derselbe Leib starb und

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/201&oldid=- (Version vom 28.8.2016)