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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

das ewige Leben. Es ist ein wunderbarer, ein unbegreiflicher Tod, der geschehen ist in der dritten Nachmittagsstunde des Charfreitags. Indes flammt um den unbegreiflichen Todten her ein unmisverständliches, seliges Wort, an dem sich die hungrige Seele dennoch stillt und genug hat, nämlich das Wort: „Für euch!“ Um dieß unbegreifliche Ereignis her webt ein Sonnenglanz unaussprechlicher Sünderliebe, und alles, was wir an diesem Todten und an diesem Tode nicht begreifen können, hat in der Liebe des Todten zu uns seinen Grund: es ist ein Tod der Liebe, den der HErr erlitten, und die heilige Liebe ist es, welche diese gebenedeite, unbefleckte Seele außer dem Leibe wallen gehn heißt.

 Das ists, meine Brüder, dieser Tod ists, betrachtet in der Stunde, wo er erfolgte, was einem den Mund schließt, was einen Prediger die alte Sitte zurückwünschen läßt, am Charfreitag nichts Selbstgedachtes vor der Gemeine reden zu müßen. Es ist nicht der Mangel, sondern die Unzulänglichkeit der Gedanken, weshalb man schweigen möchte. Es ist alles so hehr, so heilig, − es umweht einen so wunderbar, fast wie wenn man selbst außer dem Leibe sollte wallen gehen und die Seele dahingehen in Gottes Hände. Es ist eine gewaltige Wirkung, welche von diesem Tode, in dieser Stunde auf den betrachtenden Geist eindringt, − und an der eigenen Erfahrung kann man es glaublich finden, wie von dem Kreuze Wirkung und mächtige Kraft in engere und immer fernere Kreiße ausgeht.


 Die größte Wirkung hatte der Tod des HErrn im Himmel; denn Gottes Gerechtigkeit war nun durch ihn versöhnt und die Menschheit war in ein völlig anderes Verhältnis zu Gott getreten. Gottes Herz war nun nicht mehr durch Zorn verschloßen, die Nacht des Zornes ist hin, die Sonne scheint wieder, − ein Sonnenschein der Gnaden ergießt sich am Charfreitagabend vom Himmel über die Erde, am Abend jenes Tages ward es Licht für die Menschheit und die Pforten des Himmels wurden ihr gastlich aufgethan. Was in allen Himmeln wiedertönte, war das Wort des HErrn: „Es ist vollbracht,“ − und auch die Erde weiß davon; ein Beben geht durch ihre Lande hin, in welchem sich Freud und Zittern einte. Und was Himmel und Erde bewegt, das regt sich auch im Vorhof des Himmels, im Tempel zu Jerusalem. Der Himmel ist nicht mehr durch Gottes Zorn verschloßen, so wird nun auch vom Allerheiligsten, dem Bilde des Himmels, die Hülle weggenommen und das alte Testament wird als entleert durch Erfüllung bloß gestellt und vor Jedermanns Augen gezeigt; der zerrißene Vorhang setzt allem vorbildlichen Gottesdienst ein Ende. Faßen wir den Vorgang im Tempel recht, meine Brüder! Der Riß des Vorhangs von oben bis unten ist nicht etwa gerade mit dem Tode JEsu irgendwie zusammengetroffen; er ist eine Folge des Todes JEsu, eine Wunderwirkung des HErrn. Denn Menschenhände haben dieses Gewebe nicht zerrißen; es war zu dicht und stark gewoben und bereitet, als daß ein Riß so leicht hätte erfolgen können. Am wenigsten würden Menschenhände den gewaltigen, starken Vorhang des Allerheiligsten von oben haben faßen und bis nach unten reißen können: zu der Höhe des oberen Endes konnte man die Hände nicht heben. Gar nichts zu sagen davon, daß die Menschen, welche zum Tempel Zutritt hatten, keine Lust zu einem so bedeutungsvollen Zerreißen des heiligen Vorhangs haben konnten, da ihnen vielmehr, zumal in jener Zeit, alles an Erhaltung des Vorhangs und des alttestamentlichen Gottesdienstes liegen mußte. Das hat der HErr gethan − und der Sinn der That war freuden- und wonnereich für die Menschheit: des neuen Testamentes seligen Beginn, Frieden und Freude im Himmel, Gnade und Friede auf Erden, das predigt der zerrißene Vorhang.

 Und was im Himmel, was im Vorhof des Himmels vorgieng, diese Aenderung, dieses heilige Schwinden alles Zorns und jeder Trennung Gottes von der Menschheit, dieses freudenvolle Siegen der Barmherzigkeit und Gnade gegen arme Sünder: das erwies sich alsbald, in der That und Wahrheit in der Umgebung des Kreuzes JEsu. Eine Wirkung des Leidens und Sterbens JEsu ist die Bekehrung des Schächers am Kreuze, welchen der HErr als Erstlingsbeute der neugewonnenen Menschheit noch am Abend Seines Todes mit hinübernahm ins Paradies. Und eine Wirkung des Leidens und Sterbens JEsu war doch auch die Veränderung, welche in der Seele des Hauptmanns vorgieng, der am Kreuze die Wache hatte. Ob dieser Hauptmann zugesehen, ob er es erlaubt hatte, als die Kriegsknechte den HErrn im Richthaus und noch am Kreuze so schnöde verhöhnten und peinigten?

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/185&oldid=- (Version vom 28.8.2016)