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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Nacht geboren, in Nacht gehüllt, daß es bis zur Stunde niemand begreifen oder auslegen kann. Er, selbst Gott und Mensch, und doch von Gott verlaßen: was ist das? Da sinne, wenn du sinnen kannst; du wirst am Ende doch nichts weiter zu Wege bringen, als ein stummes, staunendes Kopfschütteln. − Es ist ein schreiender Contrast zwischen diesem Worte und der Rede des Kriegsknechtes, welcher als Heide und Ausländer die aramäisch gegebenen Laute Christi nicht verstand und sie, vielleicht höhnend, auf Elias deutete. Aber, meine Freunde, alles, was man von Christi Gottverlaßenheit sagen könnte, − mags viel beßer sein als diese Worte und Deutung des Kriegsknechtes? Kommt es aus einem viel tieferen Verständnis? Fast sollt ich zweifeln. Ach welcher Selige, welcher Auserwählte, welcher Engel mag diese Worte verstehen, deren Voraussagung im Psalm an und für sich schon Beweis ist, daß der Psalm vom Geiste Gottes stammt und eingegeben ist. Von dem „Warum“, welches der HErr von Seinem Kreuze fragend in die finstre Nacht hinausrief, könnten wir allenfalls ein klein wenig den Schleier lüften und lösen. Die ganze für uns geschehene Erlösung macht uns auf die Antwort gefaßt, die auf die Frage „Warum“ kommen müßte. Ich will mich nicht erkühnen, etwas darüber zu äußern, ob der HErr für Sich die Frage that, ob Er in Seinem nächtlichen Kampf etwa einen Augenblick in Gefahr war, den klaren Blick in die Ursachen Seiner Leiden zu verlieren, und eben damit den tiefsten Trunk aus Seinem Kelche thun mußte, − oder ob Er die Frage vor den Ohren anderer nur um der Menschheit willen aufwarf, Selbst fragte, was für andere die würdigste Frage sein und die ernsteste Untersuchung geben sollte. Gewis aber ist, daß die Antwort auf das Warum uns beschuldigt, daß wir, unser Sein und Leben, die Ursache der Gottverlaßenheit Christi sind. Das können, das müßen wir mit Beugung und Anbetung erkennen. Aber was das ist: Gottverlaßenheit, Gottverlaßenheit Christi; was das war, daß Er verlaßen wurde: das ist eine andre Frage. Ich schweige − ich bin stille − ich möchte heute gar nichts mehr reden, möchte von eurem Angesicht gehen, möchte mich vor dem Altare in den Staub legen und eine Stille auch für euch einleiten, wie sie sich nach der Offenbarung St. Johannis zuweilen im Himmel findet. Ich möchte − denn ich werde von dem Ruf Christi überwogen und in den Staub gedrückt. − Ja, das war eine Nacht, die über Ihm hieng und sich über Seine Seele legte! Da lastete auf Ihm der Fluch unserer Sünde, da hieß es: „Christus ist worden ein Fluch für uns!“

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 Sie gieng vorüber, diese Nacht. In ihr und durch sie wurde vollends alles erfüllt, was erfüllt werden sollte. Und damit gieng auch die Notwendigkeit der Erniedrigung, die Notwendigkeit der Leiden, die Notwendigkeit, in einem leidenvollen Leib und Leben zu verweilen, vorüber. Der Augenblick, wo der HErr unter freudigem Siegsgeschrei verschied, eilte nun herzu. Er nahm den letzten Labetrank für Seinen heißen, schmerzenvollen Leib, und dann hauchte Er die heilige Seele aus und gab sie in des Vaters Hand. Sein letztes Geschrei − es ist mir, als klinge es mir in den Ohren, dieß Geschrei ohne Gleichen, dieß Geschrei des ungeschwächten Muthes, des letzten mächtigen, unüberwindlichen Anlaufs. Und Sein Erblaßen − es ist mir wie im Auge! Nach dem Geschrei die tiefe Stille − ich empfinde sie. Es ist nun wirklich geschehen, am ersten Charfreitag um die dritte Stunde des Nachmittags, in deren tiefster Erinnerung wir gegenwärtig selbst leben, − da ist Er gestorben. Er − und gestorben! Wie klingt das?! Daß Adam starb, ist begreiflich; daß alle seine Kinder sterben, das ist man gewohnt zu sehen und zu hören. Aber Er, der reiner war, als Adam je gewesen, und größer als Adam, der Gott und Mensch war! Immanuel − todt: das ist ein Wort, welches kein zweites zur Seite hat und keines haben wird. Daß Er wieder aufersteht, wenn Er gestorben ist; daß Er die Verwesung nicht sieht, aus des Todes Thoren herrlicher wieder kommt: bald hätte ich gesagt, das versteht sich. Aber daß Er gestorben sein soll? − Nachdem Er gestorben ist, kann es denn da noch einen Tod geben? Ist noch Tod übrig, nachdem Er gestorben ist? − Ach meine Freunde, in einem Liede ist die tiefe Verwunderung über JEsu Tod in die auffälligen Worte eingekleidet: „O große Noth, Gott Selbst ist todt.“ Es sind auffällige Worte, welche manche nicht tragen können; aber sie drücken eben doch den vollen Eindruck aus, welchen wir empfinden, wenn wir diesen Tod und die Person vergleichen, welche ihn erlitten hat. Mögen die Worte auffällig sein, paßend sind sie nichtsdestoweniger. Auch sind sie nicht auffälliger, als die Sache, von der sie reden: denn der todt ist, ist ja nicht bloßer Mensch, sondern auch der wahrhaftige Gott und

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/184&oldid=- (Version vom 28.8.2016)