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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

könnten, sondern unser ganzes Leben bis ans Ende in der Demuth zubrächten, welche der HErr in der Nacht, da Er verrathen ward, so sehr anempfohlen hat.

 Die Demuth, welche der HErr durch Wort und Beispiel empfohlen hat, tritt noch glänzender in unsre Augen, wenn man auf die heimliche Deutung achtet, welche dem Vorgang und der Handlung JEsu gebührt. Ich weiß, meine theuren Freunde, daß es viele mit den heimlichen Deutungen der Schrift übertreiben, daß sie solche Deutungen hervorbringen, welche dem Wortsinn widerstreiten, da es doch gewis ist, daß ein und dasselbe Wort des heiligen Geistes nicht einen doppelten, verschiedenen Sinn haben, daß nur Zusammenhangendes, aus einander Hervorgehendes, im innersten Sinne Verbundenes in ein göttliches Wort zusammengefaßt sein kann. Andererseits weiß ich aber auch, daß diejenigen zu viel behaupten, welche gar keine heimliche Deutung zulaßen, sondern immer und in allen Fällen nur den buchstäblichen Sinn festgehalten wißen wollen. Wie könnten diese Recht haben, da das neue Testament, und in ihm der Mund des HErrn JEsus und Seiner Apostel selbst so manches mal in alttestamentlichen Aussprüchen neben dem buchstäblichen einen zweiten Sinn offenbart, der, so völlig er mit dem buchstäblichen zusammengeht und wie die Seele mit dem Leibe zusammenhängt, dennoch von keinem menschlichen Leser gefunden oder auch nur geahnt worden wäre. Denkt nur z. B. an die Epistel vom Sonntag Lätare, an die Deutung, welche Sarah und Hagar finden. Wer die Geschichten von Sarah und Hagar liest, denkt von selbst gewis nicht an das himmlische Jerusalem und an Sinai. Der HErr aber, der Schöpfer aller Dinge, dachte, da Er Hagar und Sarah zu schaffen beschloß, an Sinai und das ewige Jerusalem, und machte die beiden Frauen zu Vorbildern des alten, vergänglichen und des unvergänglichen, ewigen Testamentes; Er offenbarte dem heiligen Paulus Seine Gedanken, dieser verkündigt sie uns, und wir finden in der heimlichen, Sarah und Hagar selbst unbekannten, Deutung die schönste Uebereinstimmung mit der äußeren Geschichte der beiden Frauen. So ists öfters − die ganze süße Lehre von den Typen und Vorbildern auf Christum und Seine Kirche wäre nur ein wesenloser Traum, wenn es nicht einen doppelten Schriftsinn gäbe, von welchem der innere zum äußeren sich wie der Same zur Frucht verhält. Laßen wir deshalb immerhin gelten, was gelten kann und muß. Erdichten wir keinen doppelten Sinn, aber wo der HErr und Sein Geist einen solchen offenbaren, da wollen wir Augen und Ohren öffnen und uns freuen, daß Er so gütig ist. − Eine von den Stellen nun, wo ganz offenbar ein doppelter, wenn schon völlig zusammenhängender Sinn derselben Handlung, derselben Worte Gottes angedeutet wird, findet sich grade in unserm Text.

 Der HErr wusch Seinen Jüngern die Füße, um sie durch Sein Beispiel und die mit demselben verbundenen Worte zur dienenden Demuth zu ermahnen. Nun überlege, was sich dabei zutrug. Als Er zu Petro kam, wollte dieser, wie bereits erwähnt, aus großer Ehrfurcht vor der Würde JEsu, aus Erkenntnis des eigenen Unwerths gegenüber JEsu sich die Füße nicht waschen laßen. Der HErr machte Petrum aufmerksam, daß Er mit Vorbedacht diese Handlung vorgenommen, daß Petrus jetzt nicht wißen, aber hernachmals erfahren solle, was sein HErr und Meister dabei im Sinne gehabt. Petrus weigert sich wiederholt, nur mit verstärktem Nachdruck. Da antwortet der HErr: „Werde Ich dich nicht waschen, so hast du keinen Theil mit Mir.“ Faßet diese Worte scharf ins Auge. Kann der HErr den Theil, welchen man an Ihm hat, von einer äußerlichen Fußwaschung abhängig machen? Wo hat Er das sonst gethan? Wie stände es dann mit dem Theile derer, die Er nicht gewaschen, mit Mariä, der heiligsten Mutter Theil am Sohne, mit dem Theile St. Pauli, den die Liebe zu Christo verzehrt hat, mit dem Theile des Apostels Matthias, von andern, von uns armen Spätlingen gar nicht zu reden! Und wie stände es mit Juda, in des Herz der Satan schon Macht hatte zur Zeit, da ihm die Füße gewaschen wurden? Hat er durch äußeres Waschen Theil bekommen, nachdem sein Herz durch Hingabe an den höllischen Fürsten allen Antheil an Christo verloren hatte? Ich denke, hier ist leicht zu richten. Die Handlung JEsu ist, wie man sagt, symbolisch, sinnbildlich: es ist ein geistiger, geheimer Sinn in Wort und Thun des HErrn. − Betrachten wir, was weiter geschah[.] Als Petrus hörte, daß von dem Fußwaschen der Antheil an JEsu abhangen solle, da wendet sich schnell sein gewandtes, tapferes Herz. Kurz zuvor wollte er sich „in Ewigkeit nicht“ oder „nimmermehr“ die Füße waschen laßen, und nun kommt es schnell umgekehrt: „HErr, nicht die Füße allein, ruft er, sondern auch die Hände und das

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/173&oldid=- (Version vom 14.8.2016)