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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Welt, der Todestag JEsu Christi, der Opferungstag unsers Passalammes an. Ist uns die Woche, in welcher wir leben, vor allen Wochen des Jahres ausgezeichnet, weil ein jeder oder doch nahezu ein jeder ihrer Tage durch geschichtliche Erinnerungen aus dem Lebensende JEsu geheiligt ist; so sind uns die vier und zwanzig Stunden, welche zwischen dem heutigen und dem morgenden Abend mitten inne zu durchleben sind, vor allen Stunden des Jahres ausgezeichnet, denn wir wißen fast von einer jeden insonderheit, was in ihr der HErr gesagt, gethan, gelitten hat. Jede Stunde ist eine Erinnerungsstunde, eine durch Erinnerung geheiligte Stunde. Gottes Wort, die Erinnerung an unsern einzigen, heißgeliebten, leidenden Erlöser, die betende Betrachtung Seiner Schritte zum Kreuz, Seiner Kreuzespein, Seines Todes weihe auch uns eine jede von diesen Stunden zum heiligen Sabbath.

 Beßer diese ernsten vier und zwanzig Stunden einleiten, als durch die Lection, die wir so eben vernommen haben, können wir nicht. Mit ihr eröffnet der Jünger, welcher beim heiligen Mahle an JEsu Brust lag, die Erzählung der Geschichte dieses Tages. Ihm folgen wir nach, indem wir sie jetzo betrachten. Jedoch, meine Brüder, seid ihr heute weniger gekommen, um menschliche Betrachtungen über göttliche Texte zu vernehmen, als vielmehr zu dem Zweck, selbst durch den Genuß des heiligen Mahles den Tod des HErrn zu verkündigen und so diesen Abend ganz in der Weise zu feiern, wie ihn der HErr gefeiert hat. Denn auch Er hat ja mit den Seinigen das Mahl gehalten. Daran will ich mich erinnern. Ich bitte den HErrn allewege, besonders jetzt um Einfalt, also mit euch Seinem Worte, meinem Texte, nachzugehen, daß wir Seine heiligen Gedanken walten laßen und nur hören, was Er am Abend, da Er Sein Mahl gestiftet, gethan und zu Seinen Jüngern gesagt hat.


 „Wie Er hatte geliebt die Seinen, so liebte Er sie bis ans Ende.“ Das ist die Ueberschrift, welche St. Johannes über die Pforte geschrieben hat, durch welche wir den letzten Lebensweg, den Leidenspfad des HErrn betrachtend und anbetend betreten. So hat Johannes geschrieben und wer unterschreibt, wer besiegelt nicht diese Ueberschrift? Der HErr wußte, daß Seine Zeit gekommen war, daß Er aus dieser Welt gienge zum Vater, − dicht vor Sich sah Er Sein Ende mit allen seinen Schrecken. Zwar sah Er jenseits Seiner Leiden die Herrlichkeit winken, welche Ihm der Vater gegeben hatte, ehe der Welt Grund gelegt ward; aber gegen den Glanz jener Herrlichkeit stach doch die Finsternis Seiner Leiden nur desto grauenvoller ab. Was treibt Ihn hinein, was hilft Ihm hindurch − durch diese Finsternis − in jene Herrlichkeit? „Die Liebe zu den Seinen,“ zu den Jüngern und zu allen, die durch ihr Wort an Ihn glauben sollten, die nicht glauben konnten, wenn Er diesen Todesweg nicht gieng. Die Liebe ist Herrscherin in Ihm − die Liebe zu Menschen, zu Sündern. „Ich bin gewis, daß weder Tod noch Leben, weder Engel, noch Fürstentum, noch Gewalt, weder Gegenwärtiges, noch Zukünftiges, weder Hohes, noch Tiefes, noch keine andere Creatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo JEsu ist, unserm HErrn,“ − sagt St. Paulus. Und wer will es wehren, wer muß nicht beistimmen, wenn wir sagen: „So hat Christus uns geliebt!“ Da sieh hinein, was Ihm alles begegnet in diesen vier und zwanzig Stunden, Leben und Tod, Engel und Fürstentum und Gewalt, Gegenwärtiges und Zukünftiges, zeitliche und ewige Strafen und Leiden, Hohes und Tiefes, Gottverlaßenheit und Höllenqual, und was alles, − und Er hat es gewußt, und Er geht doch vorwärts bis zum Ende, und es heißt: „Wie Er geliebt hat die Seinen, so liebte Er sie bis ans Ende!“ Liebe ist stark wie der Tod. Sieh JEsum an und sage mir, ob sie nicht stärker ist als der Tod? Liebe am Anfang − Liebe am Ende − Liebe vom Anfang bis zum Ende − Liebe jenseits des Endes − Liebe im Paradies und im Grab, in der Höllenfahrt und in der Auferstehung und in der Himmelfahrt: Er ist ganz Liebe, wie Gott die Liebe ist. JEsus und Liebe − das ist Ein Wort und Ein Sinn. Das sagt St. Johannes, das beschwört die streitende und die triumphirende Kirche. Und wer thäte es nicht heute noch? St. Paulus hat eifernd gerufen: „Wer unsern HErrn JEsum Christum nicht lieb hat, der sei Anathema Maran Atha!“ Ich bin nicht Paulus, ihr seids auch nicht, ach wir haben über unsre Lieblosigkeit zu klagen; aber wann wollen wir St. Paulo nachreden, wann wagen wirs, seis auch mit Zittern, wenn nicht an diesem Abend, unter der Pforte, bei der Uebersicht Seines Leidensweges?!

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/170&oldid=- (Version vom 14.8.2016)