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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

will Er die Menschheit führen, und weil Er nicht alleine hinkommen, weil Er sie mitbringen, miterhöhen will als Seine Verwandtin, so steigt Er in ihre Leiden und in ihren Tod; aus den tiefen Thalen ihres Fluches führt Er sie hinauf! So ist Er zugleich demüthig und hochgemuth − − und das empfiehlt sich von selbst zur Nachahmung. Ein Durchgangspunkt für Pilgrime zur ewigen Heimath ist dieses Jammerthal des Lebens: wer hinauf will zu Bergesgipfeln, muß vom Thal anfangen zu steigen. Demuth ists, womit unser Gang beginnt, Demuth hebt uns den Fuß, Demuth gibt uns den Boden und den Weg unter die Füße, welchen wir wandeln sollen, Demuth geleitet uns aufwärts. Wer ohne Demuth aufwärts steigen will, vermag es nicht! Demuth aber und Selbst- und Weltverleugnung sind innigst verwandt. Es mag wohl Selbst- und Weltverleugnung ohne Demuth geben, aber Demuth ohne jene? Wer wollte das glauben? Demuth ist innerlich frei von der Welt, und wenn sie in Krone und Purpur gienge; Demuth ist ihrer und der Welt, der Sünde und Eitelkeit satt − und was sie will, das ist alles dort, wo Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. JEsu Jüngerin, JEsu Nachfolgerin ist sie, bleibt sie, bis auch sie vom Thal der Welt zu Seinem Throne gekommen ist.


 Habet ihr nun, meine Brüder, gehört und aufgenommen, was ich euch sagte, so habet ihr auch eine Speisung empfangen. Denn JEsum Christum haben wir ja etwas mehr erkannt, und Ihn erkennen, ist Speisung, Genüge und Leben. „Das ist das ewige Leben, so spricht Er selbst, daß sie Dich, Vater, und den Du gesandt hast, JEsum Christum erkennen.“ Hätte ich aber nun gleich die Beruhigung, aufmerksamen und willigen Seelen etwas Speise und Gnade dargereicht zu haben: von diesem Predigtstuhle dürfte ich dennoch nicht gehen; es ist noch etwas rückständig zu bemerken, das darf ich nicht vergeßen, nicht dahinten laßen. − Es ist eine Eigenheit des heiligen Evangelisten Johannes, Wunder um der Reden willen zu erzählen, welche sich anschloßen. Diese Eigenheit offenbart sich auch in diesem Evangelio. Auch das Wunder der Speisung der fünftausend Mann ist zunächst um der Reden willen erzählt, welche dadurch angeregt wurden und von dem Apostel unmittelbar nach dem Wunder vorgelegt werden. Und nicht bloß das, sondern aus diesen Reden erkennen wir erst recht, welche Gedanken und Absichten der HErr bei dem Wunder hatte. Zwei Gedanken sind es, welche der HErr in den gedachten Reden theils ausspricht, theils merken und ahnen läßt. Der eine ist der: „Ich bin das Brot des Lebens, − das Brot, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben;“ der andere ist der von dem Genuße Seines Fleisches und Blutes im heiligen Abendmahle, durch welchen Seine Rede: „Ich bin das Brot des Lebens“ erst völlig zu dem von Ihm selbst beabsichtigten Verständnis kommt. Jener Gedanke ist ausgesprochen, dieser liegt unverkennbar nahe; zu sehr kommt jener im heiligen Mahle in Erfüllung, als daß dieser dem HErrn bei Seinen Reden vom Lebens- und Himmelsbrot hätte unbewußt sein oder ferne liegen können. Faßen wir die beiden Gedanken recht, dann wird uns unser Evangelium zu einem gewaltigen Passionstexte − und wir sehen von ihnen aus mit desto herzlicherer Theilnahme in die Textgeschichte.

 Zu dem großen Propheten JEsus kommen Tausende, die von Ihm alles erwarten, nur nicht das, daß Er sie speise, nur nicht, daß Er selbst ihre Speise werde für Leib und Seele, nur nicht, daß Er Seinen Leib und Sein Blut ihnen zur Speisung Leibes und der Seelen reiche. Was aber keine Seele geahnt, kein Herz begehrt, geschweige gesucht hat, das gibt Er unaufgefordert zur Ueberraschung der Tausende und der Millionen, der ganzen Welt. Er wird nicht allein ein Erlöser unseres Leibes und unserer Seele, sondern ein Lebensbrot für beide, in dem wir alles finden, was wir bedürfen und was wir wünschen können: Reinigung unserer Menschheit, Vereinigung mit der Gottheit, eine ewige Fülle und Herrlichkeit für Leib und Seele, − mit allbekannten Worten: Vergebung der Sünde, Leben und Seligkeit. Gleichwie Er im Wunder unsers Textes Leib und Seele Seiner Zuhörer im Auge hat, ihren Leib speiset und zugleich für die Speisung der Seele durch Sein Wort Sorge trägt, so thut Er auch jetzt noch allewege und insonderheit in Seinem heiligen Mahle: Er speiset den Leib und die Seele und zwar sorgt Er für jenen in doppelter Weise, daß er vergängliche und unvergängliche Speise erhalte; auch der Leib erhält Anwartschaft auf ein ewiges Dasein und wird für dasselbe gespeist. Und wie Seine Diener bei dem Gastmahl im Texte nicht zu kurz kommen, so haben sie auch an den Gütern Seines Hauses und namentlich bei dem

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/158&oldid=- (Version vom 28.8.2016)