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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

gläubige Hörerin JEsu geworden; das Wunder hat an ihr seinen Dienst gethan und seinen Zweck erreicht. Eben so hat auch jetzt noch bei denen, welche JEsu Wunder nicht sahen, sondern sie nur hören und betrachten, die rechte Wunderwirkung stattgehabt, wenn sie fortan auf alle Worte des großen Wunderthäters horchen. Seine Wunderthaten sollen so Zuschauer, wie Leser und Hörer zu Seinem Worte vorbereiten, und Sein Wort erzählt uns dann wieder von Thaten, und zwar von solchen, vor denen der Glanz aller einzelnen Wunder erbleicht, von Thaten, welche den allergrößten, z. B. der Schöpfung zur Seite treten, von der Versöhnung, von der Erlösung, von der Heiligung der Menschheit. Wenn von diesen Sein Wort erklingt, da heißt es dann: „Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren!“ Denn das Wort bringt uns alsdann nicht bloß eine Kunde von dem, was Gott in Christo JEsu für uns gethan, sondern es theilt uns zugleich alle Frucht und Seligkeit der für uns vollbrachten Werke Gottes mit; es ist für uns, so oft es sich hören läßt, ein Brunnen lebendigen Waßers, von welchem wir rein und satt werden fürs ewige Leben. Ach, meine lieben Brüder, was liegt doch alles für uns arme Menschenkinder in den Worten: „Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren!“ Und wie ganz anders klingen sie, als die bekannte irrige Behauptung: „Selig sind, die Gott vorausbestimmt hat zum ewigen Leben!“ Gegen dieß kalte schaurige Wort, wie ganz anders, wie lieblich und heilsam klingt die Stimme des guten Hirten, von der wir sagen! Er ruft Seine Schafe zu Seinem Gehorsam und macht von den süßen Geschäften des Hörens und Bewahrens Seiner Worte Himmel und Seligkeit abhängig. Hören − bewahren, was Er sagt: sind das Bedingungen der Seligkeit? Kann man sie füglich so nennen? Ist auch jemand, der es zur Bedingung des Almosens, um welches gebeten wird, machen möchte, daß man es nehme und bewahre? Versteht sich das nicht von selbst? Wie preiset also der HErr Seine Gnade und Erbarmung gegen uns, indem Er uns die Worte sagt: „Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren!?“ Es ist ja grade so viel, als ob Er spräche: Selig will Ich euch machen − und wenn ihrs werden wollet, so höret und bewahret nur Meine Worte; denn durch das gehörte und bewahrte Wort Meines Mundes mache Ich selig. Ergreift im Wort Meine Hand und allen ihren Reichtum; tretet, indem ihr das Wort aufnehmet, auf den leichten, von Mir gebahnten Weg zum ewigen Leben!

 Faßet doch aber, meine Freunde, ja recht die Worte Hören und Bewahren! Das Hören des äußern Ohres ohne Theilnahme des innern macht nicht selig, eben so wenig als das Hören des äußern unter Haß und Abneigung des innern. Nicht der Leib allein soll hören, sondern Leib und Seele, damit sie, wie sie zusammen geschaffen sind, auch zusammen selig werden. Aufmerksames, überlegendes, eingehendes Hören − das ist das Erste. Beifall kommt dem, der vorurtheilsfrei höret und die Regungen des natürlichen Bösen, das sich in ihm wider das Wort auflehnt, nicht achtet, wie von selbst. Aus treuem, fleißigem Hören erwächst unvermerkt eine Lust zu Gottes Wort und aus dieser Lust Liebe und Muth, Kraft und Geduld zu allem Guten.

 Freilich aber darf dabei das zweite Wörtlein „Bewahren“ nicht aus der Acht gelaßen werden. Was wäre auch ein Hören ohne Bewahren, ein Lernen ohne Gedächtnis, ein Sammeln ohne Gebrauch, ein frischer Quell, von dem man nicht tränke? Zum Segen, zum rechten vollen Segen des Hörens kann ohne Bewahren niemand kommen. Höre, höre aufmerksam, überlegend, eingehend, treu und fleißig; aber bewahre das Gehörte. Bewahre es, indem du es vor Gottes Angesicht, in deinem Kämmerlein wiederholst, es immer wieder erneuest, darüber betest, in der Schrift forschest, ob es sich auch also hält, − dich selber prüfest, ob du dich darnach hältst, dich strafest, wenn es nicht so ist, dich ermunterst und in Gott erweckst, daß es fortan beßer werde. Das alles gehört zum Bewahren und darauf kommt es an, wenn das Böse in uns überwunden, wenn die Kraft des göttlichen Wortes, die es zum Siege verleiht, erkannt und empfangen werden soll, wenn man den listigen Anläufen des Teufels mit heiler Seele entrinnen will. Was wird dir dein Hören helfen ohne Bewahren? Weißt du nicht, in welch einer Welt du lebst, daß der Satan wider deine Seele streitet? Schon das Hören sucht er zu verhindern, und wann ist er geschäftiger gegen die Menschen, als wenn sie dem HErrn ein empfängliches Ohr zukehren? Und wie kommt er erst empor mit viel tausend Künsten, wenn er merkt, daß Gottes Wort seine Dienste thut, daß die Seligkeit dem Hörer immer näher kommt, weil sich seine Seele ernstlich mit dem gehörten Worte beschäftigt,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/152&oldid=- (Version vom 28.8.2016)