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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Gewalt und List viel mehr ausgesetzt, als im Zustande des Glaubens. Darum reihen wir die zweite Frage an. − Der Geist leitet die Herzen zu dem Sohne. Darum reden wir zuerst von den Wohlthaten des Geistes, dann von denen des Sohnes. − Wie die zweite Frage auf die erste, so folgt die vierte auf die dritte. Es ist je unter zweien ein sicherer Fortschritt und Zusammenhang.


 Unser Text zeigt uns eine Mutter, deren Tochter von schweren Leiden geplagt wurde, − eine Mutter, welche die Leiden der Tochter zu den ihrigen machte, selbst durch dieselben schwer belastet und betrübt wird, und darum Hilfe sucht. Wie gefällt sie euch, liebe Brüder? Wie gefällt euch diese Mutter? Ist etwas Ehrwürdigeres, als eine Mutter, wenn sie von Liebe zu ihren Kindern ergriffen und getrieben wird? Ist etwas Lieblicheres, als die Liebe, welche Zustände und Personen verwandelt und vertauscht, im Glücke sogleich unglücklich wird, wenn der Geliebte leidet, im Unglück von Freuden heimgesucht wird, wenn der Geliebte Freudentage hat, und kurzum immer in dem Geliebten lebt? − Ihr werdet zugestehen, daß die Liebe zu den Kindern und Verwandten etwas sehr Ehrwürdiges und Liebliches ist. Aber ob ihr mir mehr zugebet? Ob ihr einstimmet, wenn ich sage: Das Alles ist Natur, das cananäische Weib hat diese Mutterliebe von Natur? Das ist eine andere Frage. Ihr werdet mir beistimmen, daß sie diese Liebe von Natur hat, so lange ich diesen Ausdruck „von Natur, natürlich“ als Lob gelten laße. Aber wenn ich behaupte, daß die Gaben der Natur, so wie wir sie im Stande unsers Falles besitzen, an und für sich das Wohlgefallen Gottes nicht haben, daß sie von Sünde befleckt und durchdrungen seien und erst der Läuterung und Reinigung durch den Geist Gottes bedürfen, um zum Reiche Gottes gerechnet zu werden, − dann, dann wird es anders lauten! Dann werdet ihr vielleicht mit Kopfschütteln von mir weichen. Oder irre ich mich in euch? Darf ich hoffen, daß ihr Natur und Gnade scheidet, daß ihr die Gnade höher schätzet, als die Natur, daß auch ihr, wie ich, wünschet, die Natur möge geläutert, gereinigt, erhoben werden durch die Gnade? Ich sollte es hoffen dürfen, denn die Schrift und die einfache Ueberlegung der Dinge spricht für mich. Ich will es hoffen und will in dieser Hoffnung es zuversichtlich und vertrauend vor euren Ohren sagen: Mutterliebe ist Natur − und es gibt drum etwas, was höher ist als Mutterliebe, nämlich Gnade.


 Wenn durch diese Behauptung das cananäische Weiblein sammt allen Müttern vielen wie herabgewürdigt erscheinen und mir meine Rede unter euch zum Tadel gereichen sollte; so werde ich, wenn ich den angegebenen Inhalt unserer Betrachtung weiter verfolge, in euren Augen mich selbst noch weiter heruntersetzen, als es dem cananäischen Weibe geschah. Denn ich muß ja die Frage beantworten: Was hat das cananäische Weib vom Satan? Diese Frage aber erscheint, noch ehe ich sie beantworte, wie eine Entehrung nicht bloß aller Mütter, sondern der gesammten Menschheit. Gibt es denn einen Satan und ein böses Geisterreich? Ist es nicht der elendeste Aberglaube, so etwas anzunehmen und nun gar zu lehren? Und ist es nicht das Allerunwürdigste, die Menschheit unter den Satan und die Einflüße seines bösen Reiches zu stellen? So etwas hör ich gleichsam in meinen Ohren. Indes, geliebte Brüder, die Bibel ist nicht abergläubig, sondern gläubig, nicht phantastisch, sondern wahrhaftig, nicht teuflisch, nicht menschlich, sondern göttlich − und die Bibel lehrt allenthalben nicht allein im neuen, sondern im alten Testamente ein böses Geisterreich und eine Einwirkung desselben auf die Menschen. Sie lehrt offenbar, unwiderstreitbar, unabweisbar, daß der Satan und seine Engel in mancherlei Weise die Menschen anfechten und anstreiten, auch die Frömmsten, ja gerade sie. Hiob, St. Paulus, unser HErr JEsus Christus selber haben es erfahren, nicht allein gelehrt. Eben so unwidersprechlich lehrt auch die heilige Schrift, daß der Teufel sein Werk habe in den Kindern des Unglaubens, es mögen nun diese Kinder des Unglaubens sich in der Wüste des Heidentums, oder wie Unkraut auf dem Acker in Gottes Kirche finden. Und darum müßen wir mit der heiligen Kirche, noch ehe wir Erfahrung gemacht haben, geschweige aber wenn wir selbst schon mit allen Heiligen Anfechtung und Widerstand erlitten, der Schrift beistimmen und mit dem bewährten Helden von dem bösen Feinde singen: „Groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist. Auf Erd ist nicht seins Gleichen.“

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/143&oldid=- (Version vom 28.8.2016)