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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

nach dem andern gewinnen und aus jedem Kampfe stärker hervorgehen. Aber wir haben keine Lust, einen Feind zu bekämpfen, der uns ewig zu verderben trachtet. Wir halten es heimlich, oder gar öffentlich mit ihm. Wir bleiben immerzu in dem versuchlichen Wesen der Welt und mögen auch den Schritt nicht thun, der uns von der breiten auf die schmale Straße bringen würde. − Ach wir doppelten Sünder, die wir nicht sagen können: ich bin erlegen, denn der Feind war mir zu stark; − die wir sagen müßen: es hat mich noch nie keine denn menschliche Versuchung betreten, ich hätte in keiner bis aufs Blut zu kämpfen brauchen, ich habe immer eine Erinnerung an das Gotteswort bekommen, durch welches ich des Versuchers Herr werden konnte, es regte sich jedesmal in mir eine Hilfe des Heiligen Geistes und eine Einladung desselben, sie zu gebrauchen, ja sie nur walten zu laßen, es wehte mich zuweilen an wie mit Adlerflügeln, die bereit wären, mich über Wüsten, Zinnen und Berge der Versuchungen hinwegzutragen; aber ich habe nicht gewollt, denn − ich liebte die Finsternis mehr als das Licht. − So müßen wir gestehen, daß wir in unsern Versuchungen gerne, muthwillig fielen, daß wir das Böse mit Liebe fast herbeizogen, das Gute nicht mochten − und durch eigene Wahl so gar hinfällig, abfällig, lau und todt sind,

 und überdieß im Herzen nicht einmal Reue und Buße fühlen. Es ist heute Bußtag, und man sollte am Bußtag nicht bloß die eigene tägliche Sünde, sondern hauptsächlich die Sünden beweinen, welche das ganze Land und die ganze Zeit belasten. Aber der Name Bußtag ist mehr eine Vermahnung zu dem, wozu er gegeben ist, als eine Benennung deßen, was er ist. Wer denkt seiner Sünden? Und wer macht vollends mit andern, mit seinen Stammes-, Volks- oder Zeitgenoßen eine Gemeinschaft, Buße zu thun? Daß einer für alle, alle für einen Buße thun, ist keine Sache, welche man in einer Zeit versteht, da die Liebe erkaltet ist. Die Herzen sind schaal, die Augen sind trocken, die Hände ringen nicht, die Kniee beugen sich nicht, das Unrecht wird nicht abgethan, nicht gut gemacht, so weit es möglich ist, das Recht nicht gehandhabt: jeder schont seines Fleisches, keiner oder doch selten einer verlangt und strebt darnach, bußfertig zu leben. Es ist gar weit heruntergekommen in dieser Zeit. Es ist gerade so, als wäre es eine Schande, bußfertig zu erscheinen. Es haben alle genug gesündigt, dennoch will keiner bußfertig scheinen, keiner straffällig sein, keiner zugestehen, daß er sich ändern müße, jeder im gleichen Ton wie immer, in hochmüthiger, sündiger Beständigkeit fortleben, Recht haben, stolziren, prangen, prahlen und sich selbst ehren. Es ist nicht angenehm, so zu reden; ach, es thut weh, wenn man die Stimme eines Predigers oder vielmehr eines Klagliedes in der Wüste sein muß! Aber ists denn anders? Kann denn jemand, was gesagt ist, umstoßen? Ich frage, ich warte auf Antwort, ihr habt keine; gäbet ihr eine, ihr thätet mehr als ihr verantworten könnet!

 Wenn es aber so ist, wie kann man am Bußtag anders reden? Ich wollt euch herzlich gern trösten; aber wie soll man denn trösten, wenn keine Reue noch Leid vorhanden ist? Ich weiß Ausnahmen und finde sie auf den Kranken- und Sterbebetten; aber so insgemein, Freunde, kann ich nicht sagen, daß ich zur Ausübung des Trostamtes viel erwünschten Anlaß und Gelegenheit hätte. Lustige, stolze, harte, rechthaberische Sünder kann man doch nicht trösten? Soll man den Trost lächerlich machen? Man kann und will nicht. So muß das Trostamt feiern − und das Evangelium, welches in der Geschichte von der Versuchung Christi liegt, kann ruhen; die Harfen, die zum Preis des Stellvertreters aller Sünder gestimmt sind, hängen an den Weiden und feiern. Ach daß man das Aeltestenamt in den Gemeinen führen kann, ohne zum Studium des heiligen Trostes Gottes gedrungen zu werden! Ich sags mit Ueberlegung, aber ich sags auch mit tiefer Traurigkeit: der Trost ist so verachtet, der Trost für Sünden, für Beleidigungen Gottes, für Herausforderungen der ewigen Gerechtigkeit, für Reizungen des gerechten Richters! Es thäte einem so wohl, wenn man zu Jerusalem freundlich reden und ihr verkündigen dürfte, daß ihre Ritterschaft ein Ende hat, − wenn man auch einmal erfreuen und damit selbst erfreut werden dürfte, wenn man eigene Thränen dadurch trocknen könnte, daß man fremde Thränen trocknen dürfte. Aber − das brauchts leider nicht, im allgemeinen leider nicht, − und alles, was man hat, um sich selbst in so traurigen Umständen zu trösten, ist, daß noch nicht aller Tage Abend ist, daß wir rufen können: „Die Güte des HErrn ist, daß wir nicht gar aus sind, Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende; sondern

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/141&oldid=- (Version vom 28.8.2016)