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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

hin;“ so wird es schaurig kühl um einen solchen stehen. Man muß sich deshalb nicht bloß um solche Belohnungen Gottes bemühen, die sich hier verzehren, sondern um unvergängliche und unverwelkliche Kronen, wie sie im ewigen Leben aufbewahrt sind. Oder völliger zu reden: man muß vor allen Dingen nach dem ewigen Leben trachten und wenn man sein im Glauben und durch die alleinseligmachende Gnade Gottes gewis geworden ist, so muß man sich und anderen von der Wahrhaftigkeit seines Gnadenstandes durch heilige Treue und gute Werke den Beweis geben.

 5. Diese Vermahnung wird uns mit doppelter Gewalt in die Seele dringen, wenn wir uns die letzte Frage gelöst haben werden. Die Frage lautet: „ Ist eine und dieselbe Sache immer nur Lohn, oder kann sie auch jemand empfangen, ohne daß sie Lohn ist? “ Und die Antwort folgt nun.

 Die Arbeiter der ersten, dritten, sechsten, neunten, eilften Stunde empfangen alle einen Groschen zum Tagelohn, aber nur für die ersten war er im eigentlichen Sinne Lohn, nur mit ihnen war der Hausvater eins geworden über den Groschen; den andern hatte er zwar gesagt: „was recht sein wird, soll euch werden,“ aber es konnte keiner, zumal im Vergleich mit den ersten, einen Groschen erwarten, und da sie hernach doch den ersten gleich gestellt wurden, und auch einen Groschen empfiengen, hatten sie damit nicht bloß, was recht war, sondern weit mehr als das. Die ersten empfiengen, was ausbedungen, und darum was recht war, die andern was gütig war; da sahen die ersten scheel, daß der Herr auch durch Güte konnte, was er vermöge des Rechts gekonnt. Hier ist ganz offenbar ein und derselbe Groschen für die einen Lohn für die andern, streng genommen, nicht; denn obschon der Herr vor seinem Schaffner den Groschen aller Arbeiter „Lohn“ nennt; so sagt er denn doch auch selbst wieder, daß er denen, welche nicht den ganzen Tag gearbeitet hatten, den Groschen aus Güte gegeben, und spricht zu einem von den Murrenden in diesem Sinne: „Siehest du scheel, daß ich so gütig bin?“ Hiemit ist unsre Frage beantwortet. Es kann wirklich ein und derselbe Groschen, eine und dieselbe Sache für den einen verheißener Lohn, für den andern eine Gabe sein, auf deren Erlangung zu warten ihn auch keine Verheißung ermächtigte. Es kann also ein Fleißiger reich werden durch die Verheißung und sein Reichtum ist Lohn; es kann aber auch einer, der am Markte der Welt sein Leben lang müßig gestanden, reich werden durch Gottes Güte, und die Meinung des HErrn kann sein, durch den Reichtum Seiner Güte den armen Müßiggänger zu beugen und zur Buße zu leiten. Und wie vom Reichtum, so kann dasselbe auch von andern, irdischen und zeitlichen Gütern gelten; denn die ewigen Güter haben mit dieser Regel nichts zu thun, du müßtest denn aus dem Gleichnis den kühnen Schluß machen wollen, daß eine kurze, nach der Berufung durchs Evangelium alsbald begonnene, durch den Tod schnell unterbrochene Treue denselben Gnadenlohn finden könne auch in der Ewigkeit, wie die fortgesetzte Arbeit eines langen Lebens. Doch ist wohl zu überlegen, ob nicht der Blick auf murrende Belohnte die Anwendung des Gleichnisses auf den ewigen Lohn verbietet.

 Das nun Gesagte wohlerwogen, verlieren die irdischen Belohnungen und Güter Gottes einen Theil des Werthes, welchen man ihnen so gerne beilegt. Und das ist nicht umsonst also von dem HErrn gefügt. Er selbst ordnet alle irdischen Verheißungen den ewigen unter, gibt oder versagt jene auch denen, welchen Er sie selbst zuspricht, ganz je nachdem es Seinen Lieblingen zum ewigen Wohle dient. Da führt Er ein frommes Kind durch das verheißene lange Leben auf Erden zu den gleichfalls verheißenen ewigen Gütern, weil es diesem Kinde so grade dienlich ist. Dort führt Er ein gleich frommes Kind in der Hälfte seiner Jahre durch den Tod zum ewigen Besitz, weil es ihm so nützlich ist. Mit allen Seinen Thaten, mit allen Seinen Fügungen will Er unsere Augen zu den ewigen Belohnungen aufheben, und uns himmlisch gesinnt und eifrig machen, in Geduld und guten Werken nach dem ewigen Leben zu ringen.


 Liebe Brüder! Zu Christen und berufenen Heiligen, zu getauften Kindern der Gnade rede ich und von ihnen. Wir sind alle in den Weinberg Gottes berufen, manche von uns arbeiten darinnen, − ein jeder von ihnen seine Zeit; am Ende werden alle gelohnt  − aber nur wenige, die Auserwählten, werden selig. Viele sind berufen, wenige sind auserwählt. Wenn es nun möglich wäre, den Lohn von der Auswahl zu trennen und ich die Wahl hätte zwischen beiden, so nähm ich die Auswahl und den Lohn ließe ich fallen.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/123&oldid=- (Version vom 28.8.2016)