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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Seiner Verklärung wird Ihn in ihren Augen allezeit umgeben haben; die Ehrerbietung Mosis und Eliä, das Zeugnis des himmlischen Vaters selbst wird sie zu Ehrfurcht und Anbetung geneigt gemacht haben. Gewis brannte ihnen das Herz darnach, am hellen Tage und auf den Dächern predigen zu dürfen, was sie in stiller Nacht auf dem Berge Tabor geschaut hatten. Allein grade diese Sehnsucht blieb ungestillt. Der HErr verbot ihnen vor Seiner Auferstehung irgend jemand etwas zu sagen. Die Offenbarung auf dem heiligen Berge war eine Vorsorge für zukünftige Zeiten; zu seiner Zeit sollte sie durch die drei frommen Zeugen bekannt werden und die Herzen in dem Glauben stärken, daß der HErr allezeit, im Stande der Erniedrigung, wie im Stande der Erhöhung, einer und derselbe gewesen und geblieben, Gottes Sohn und Menschensohn, groß und hehr, menschenfreundlich und barmherzig. Jetzt aber sollten die Jünger schweigen und warten − und alleine für sich den Segen haben und benützen, der aus dem Anschauen der Verklärung ihnen so reichlich zugefloßen war.


 Liebe Brüder! Bei dem ersten Wunder, welches unser HErr verrichtet hat, nemlich bei dem zu Cana in Galiläa geschehenen, heißt es: „Er offenbarte Seine Herrlichkeit.“ Wir haben nun schon öfter Anlaß gehabt, zu bemerken, daß von jedem Wunder Christi ein Gleiches gelte, daß jedes eine Offenbarung Seiner Herrlichkeit ist. Doch hat der HErr bei keinem Seiner Wunder Seine Herrlichkeit in dem Maße geoffenbart, wie bei der Begebenheit, welche wir heute mit einander gelesen und näher betrachtet haben. − Als der Sohn Gottes sich im Mutterleibe Mariens mit der Menschlichkeit auf ewig verband, beschloß Er, Seine menschliche Natur nicht alsbald bei der Geburt in der Glorie erscheinen zu laßen, welche derselben vermöge der Verbindung mit der Gottheit gebührte. Er hatte menschliche Natur an Sich genommen, um gehorsam zu werden bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze. Er war nicht gekommen, daß Er Sich dienen ließe, sondern daß Er dienete und gäbe Sein Leben zu einer Erlösung für viele. Wie Jakob um Rahel, so wollte Er um Seine Braut, die heilige Kirche, dienen wie ein Knecht, und deshalb auch Sich Seiner Herrlichkeit entäußern und Knechtsgestalt annehmen. Die Verbindung der Menschheit mit der Gottheit war eine vollständige, aber die herrlichen Folgen und Wirkungen derselben waren aufgehalten; die Fülle der Gottheit wohnte in Christo leibhaftig, aber bis nach der Auferstehung waren Leib und Seele Christi mehr Hüllen über dem allerheiligsten Geheimnis, das in ihnen thronte, als Mittel der Offenbarung desselben. Niemand sah es dem Leibe Christi für gewöhnlich an, daß er ein Tempel des großen Gottes war. Dieß demüthige Erscheinen des Sohnes Gottes im Fleische nennt die Kirche auf Grund jener berühmten Stelle Philipp. 2. den Stand Seiner Erniedrigung. Diese Erniedrigung mußte aber als eine solche erkannt und offenbaret werden, damit sie nicht mit der natürlichen Niedrigkeit verwechselt würde, in welcher wir alle geboren sind. Wer niedrig ist, war nie hoch und kann nicht denken, daß ihm ein anderes gebühre; wer aber erniedrigt ist, der war hoch und ist von seiner Höhe heruntergestiegen. Der HErr mußte drum auch im Stande Seiner Erniedrigung zuweilen die Ihm gebührende Höhe und Herrlichkeit zeigen, damit Seine Demuth, Sein Gehorsam, Seine Knechtschaft recht erkannt und gewürdigt würden. Das that Er denn auch mit jedem Wunder, das that Er insonderheit auf Tabor durch Seine Verklärung. Da sah man mit Augen, wer Er war. Die verborgenen Brunnen Seiner Herrlichkeit öffneten sich, und Sein Licht und Leben brach hervor wie ein Strom. Zwar ist Verklärung des Leibes an und für sich selbst noch kein Beweis göttlicher Herrlichkeit; Mose und Elia erschienen auch in Klarheit, und dermaleins werden auch unsre Leiber dem verklärten Leibe Christi ähnlich werden, die Gerechten sollen alsdann in ihres Vaters Reich wie die Sonne leuchten immer und ewiglich. Aber alles Licht, worin die seligen Seelen schon jetzt und dereinst auch ihre Leiber glänzen, ist von JEsu her; es ist ein Meer, das aus Ihm gequollen und entsprungen ist; in Seinem Lichte wandeln Zions Kinder ewiglich. Sollte aber jemand Lust haben, das Licht, welches aus JEsu strömte, nicht für Sein eigenes, göttliches, sondern für ein fremdes zu halten, Ihn und die beiden himmlischen Propheten Mose und Elia in eine Reihe zu stellen; der achte auf das, was auf Tabor um JEsum her vorgeht. Da wird er sehen, wie der Menschensohn ein Mittelpunkt aller Wesen ist, und die Ehre, die Ihm von Himmel und Erde geschieht, wird ihn dann geneigt machen, den Sohn des Vaters zu erkennen, Ihn zu ehren, wie man den Vater ehrt, und zu begreifen, wie sich St.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/115&oldid=- (Version vom 28.8.2016)