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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

was wir in einer Reihe von Jahren an allen und jeden wahrgenommen; bei wie vielen wird sich uns die Wahrscheinlichkeit, daß sie Kinder der Bosheit seien, zwingend und unausweichlich aufdringen! Und heben wir unsre Augen auf und schauen in weiteren Kreißen umher, − oder, wenn wir Lust haben, gehen wir hinaus von Land zu Land, von Volk zu Volk, durchziehen wir die ganze Erde: es wird sich der Acker der Welt überall ähnlich, ja gleich sein, Christi Wort und Gleichnis vom unkrautvollen Waizenacker wird allenthalben paßen. Ach, wenn man − vorausgesetzt, daß man nicht selbst Unkraut der Welt ist! − wenn man anfängt, zu prüfen und zu fragen! Welch ein Jammer, welch „ein Grauen vor denen, die Gott schuf,“ überfällt zuweilen die Seele! Wie ist die Welt voll Bosheit, also daß man Aug und Acht schärfen muß, um die Kinder des Reiches zu entdecken und herauszufinden! Weltkenntnis ist eine traurige Sache: es sind der Bösen gar zu viele − und die wenigen Guten wohnen unter ihnen so spärlich und gefährlich! An manchen Orten zumal ist es ein reines Wunder, daß sie nur nicht erstickt werden vom Unkraut. Bei der Betrachtung des großen Ackers, auf dem die Menschheit grünet, reifet, Früchte trägt, ist daher manchem aller Glaube an ein beßeres Geschlecht erloschen, mancher hat gar verzagen und die Hoffnung wegwerfen wollen; − und wenn sich vollends die Abgründe des eigenen Herzens und Lebens aufthaten, wenn man sich selbst dem Unkraut so ähnlich fand, daß man den Muth verlor, sich in Christo JEsu für gerettet und erneut zu erkennen und zu bekennen: ach, was für ein unaussprechliches, tödtlich-dumpfes Weh bemächtigte sich dann der armen, gejagten Seele! − Eine solche Mischgestalt der Welt, meine Brüder, wäre ein unerträglicher Anblick für uns, wenn wir nicht durch eine völligere Erkenntnis der Wahrheit doch getröstet und beruhigt würden. Die völligere Wahrheit laßt uns nun betrachten − und sie begegne uns unserm Evangelio gemäß in der Antwort auf die schon erwähnten Fragen: Woher − warum − wie lange? Woher diese Mischgestalt? Warum wird sie geduldet? Wie lange wird sie geduldet?

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 Woher die Mischgestalt der Welt? Das ist die erste Frage, bei welcher vielleicht mancher unter euch gleich Eingangs eine Gegenfrage zu thun Lust hätte. Ist, so könnte man nemlich sagen, ist die Antwort auf die gethane Frage nach dem Ursprung der Mischgestalt der Welt, sie falle nun aus, wie sie will, geeignet, eine Beruhigung zu geben? Kann sie trösten? Ein tödlich Kranker liegt vor uns auf dem Lager; die Seinigen quälen sich herauszubringen, woher die Krankheit kam: hilfts ihnen, hilfts dem Kranken, auch wenn sie auf den Grund kommen und die richtige Antwort finden? − Auf diese Gegenfrage können wir ruhig erwiedern: Nein, an und für sich ist dem Kranken und den Seinigen damit noch gar nichts geholfen, und es ist in der That oft eine eben so unleidliche, als vergebliche Qual, solche Untersuchungen anzustellen oder anzuhören. Manchmal jedoch werfen auch verständige Aerzte dergleichen Fragen auf und laßen sich von deren Beantwortung in ihrem ganzen Heilverfahren leiten. Und zuweilen liegt in der sicheren Kunde von des Uebels Ursach eine bestimmte Weisung, ob fröhliche Lebenshoffnung, ob thränenreiche, schmerzliche Ergebung in Gottes Wege Statt haben müße. So ist es auch bei unserer Frage über den Ursprung der Mischgestalt der Welt. Denke dir nur einen Augenblick, die Antwort wäre: der Ursprung ist Gott, Er hat sie angeordnet und es ist Sein unabänderlicher Wille, daß die Welt gemischt, ein Theil böse und ein Theil gut sei. Wäre damit nicht alle Hoffnung von vorn herein abgeschnitten und aller Trost genommen? Wer kann denn wider Gott und wider Seine unabänderlichen Bestimmungen? Nun aber lautet die Antwort ganz anders: „Des Menschen Sohn ists, der da guten Samen säet. Der Acker ist die Welt. Der gute Same sind die Kinder des Reichs. Das Unkraut sind die Kinder der Bosheit. Der Feind, der sie säet, ist der Teufel.“ Also haben die Kinder der Bosheit nicht einerlei Recht in der Welt mit den Kindern des Reiches. Also ist die Welt in Christi Gewalt, Sein Acker, − nur die Seinigen besitzen den Acker und haben Recht auf ihn, die Bösen haben kein Anrecht an ihn, so wenig als das Unkraut an irgend einen Acker, aus dem es sich breit gemacht hat. Die Bösen sind vom Satan und werden nur geduldet, wie das Unkraut auf dem Acker geduldet wird, und der HErr des Ackers hat an ihrer Saat kein Theil, an ihrem Dasein kein Wohlgefallen, zur Zeit nur Geduld mit ihnen, und was Er mit ihnen thun wird, das wird sich zeigen. − Und was also die Beantwortung unserer eigentlichen Frage angeht; so können wir auf Grund der Reden des HErrn ruhig

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 094. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/105&oldid=- (Version vom 28.8.2016)