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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

von innen heraus alle Beruhigung des Menschen geschehen, erst aus den Seelen, dann aus der Creatur die Angst des Lebens vertrieben werden sollte; so würde Er nicht vor Beschwichtigung des Windes und Meeres die Seelen der Jünger gestraft und zur Ruhe gewiesen, Er würde vor allen Dingen geholfen haben. Nun aber war Sein erstes Wort nach dem Erwachen: „Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?“ und man hört es deutlich aus Seinem Munde, daß der Glaube nicht kleinmüthig und furchtsam, sondern geduldig in Trübsal und fröhlich in Hoffnung sein soll. − Und nach dem tadelnden Wort steht Er auf und bedräuet den Wind und das Meer. Wie bedräuet Er Wind und Meer? Das erzählt St. Marcus. „Schweig und verstumme!“ sprach Er zum Element. Wunderbares Dräuen! Ist Sinn, Ohr und Verstand bei Wind und Meer, daß Er ihnen befiehlt, wie man lebendigen Wesen zuruft und befiehlt? Ist in der Bewegung des Windes und der Wellen ein Wille, der gesündigt hat? oder ist es zwar nicht ein böser Wille der Natur, was sie erhebt und aufregt, ists eine fremde, feindliche sündige Gewalt? Ist es etwa wirklich der Satan, welcher die unschuldige, des HErrn wartende Creatur wider Willen zwingt, sich mit ihm gegen Christum zu empören? Was es auch sei, der HErr gebeut, bedräuet, und Sein Gebot wird erkannt, angenommen, befolgt: „es ward ganz stille“. Wenn sonst ein Sturm vorüber, geht die See noch lange hoch empor, bis sie das Gleichgewicht und die völlige, spiegelglatte Stille wieder gefunden hat, von welcher der Evangelist spricht. Dies mal ist es anders. Plötzlich war der Sturm auf den stillen See gefallen, schnell war aus Ruhe und Friede die höchste Empörung gekommen; eben so schnell tilgt der HErr die Spur der feindlichen Gewalt − und die noch einen Augenblick zuvor zagten, bebten, wurden nun so schnell aus dem Sturm in die gewohnte, tiefe Stille des Gewäßers versetzt, daß ihr Gemüth nicht mit gleich schnellen Schritten von der Angst und Noth zum ruhigen Behagen kommen konnte. Eine solche Aenderung in einem Augenblick! Es war unerhört. Und das auf zwei Worte eines Mannes! Die Verwunderung kam dem Gefühl der Errettung und das Lob dem Dank zuvor − und wer nur ein wenig sich in die Geschichte vom Schifflein Christi zu versetzen vermag, der kann es auch begreifen, der würde es unnatürlich und ungeziemend finden, wenn die von tödtlicher Gefahr Erretteten eher an das gewonnene Heil des eigenen Leibes, als an die Größe des Heilandes gedacht hätten. Ganz der gnädigen Ueberraschung und plötzlichen Hilfe gemäß sind die Worte der Reisenden: „Was ist das für ein Mann, daß ihm Wind und Meer gehorsam ist!“ − Was ist das für ein Mann? Ein Mann, dem keiner gleich. Hast du Ihn schlafen sehen? Wie süß ist Sein Schlaf, − wie menschlich schön ist Er gewesen. Es ist ein wahrhaftiger Mensch, der so schlief. Hast du Seines Schlafes geachtet, wie heilig Er war, welch eine Ruh der Seelen auf den ruhigen Zügen lag. Heilig, ein heiliger Mensch, aber heilig, wie kein anderer, ist Er. Hast du Ihn aufstehen sehen vom Schlafe und hast du Sein Wort vernommen: „Schweig, verstumme!“ Und wie es wirkte!? Ist das nur ein Mensch? Fällt dirs nicht ein, daß Er Immanuel, Gott-mit-uns heißt? Heilig und hehr ist Sein Name. Was ist das für ein Mann? Engel haben, alle Engel haben Ihn angebetet und besungen, da Er in die Welt eingeführt wurde, – Maria, Joseph, Hirten, Weise, Simeon und Hanna, die Rabbinen im Tempel, die Hochzeitleute von Cana, der Aussätzige und der Hauptmann, − und die Wellen und die Winde und die Leute im Schiff: sie sind alle Seine Zeugen. Hier ist Gott im Fleisch! Selig sind zu preisen, die mit Ihm im Sturme sein durften, daß sie Seine Hilfe schauten, „die Seine Werke erfahren haben und Seine Wunder im Meer, − da sie gen Himmel fuhren und in den Abgrund fuhren, daß ihre Seele vor Angst verzagte, daß sie taumelten und wankten wie ein Trunkener und wußten keinen Rath mehr, − und sie zum HErrn schrieen in ihrer Noth und Er sie aus ihren Aengsten führte, − und stillete das Ungewitter, daß die Wellen sich legten und sie froh wurden, daß es stille geworden war!“ Ps. 107. − Brüder! Können wir die Geschichte vom Schifflein Christi lesen, ohne zu Freud und Lob gestimmt zu werden? Laßt uns hie die Hände falten und Angesichts der großen That Christi uns an Seinen Zuruf erinnern, da Er spricht: „Rufe Mich an in der Noth, so will Ich dich erretten, und du sollst Mich preisen.“


 Die heilige Schrift lehrt uns, die Arche Noah als ein Vorbild der Kirche Gottes zu betrachten, − und es liegt gar zu nahe, theure Brüder, das Schifflein

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 089. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/100&oldid=- (Version vom 28.8.2016)