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mehr der heranwachsenden Jugend, am allermeisten denen, die im Berufe stehen. Aber damit wiederum ist die Bedeutung des heiligen Liebeslebens Jesu noch lange nicht abgeschlossen. Nicht nur als ein Vorbild kommt es uns in Betracht, sondern diese seine heilige Liebe wirkt noch fort. Das wollen wir heute zu erkennen suchen. Wir haben in der Kürze auch schon auf das Leiden und Sterben des Heilandes hingewiesen. Wie ist in demselben wieder Heiligkeit und Liebe im allerhöchsten Maße vereinigt! Heiligkeit in der vollkommenen Unschuld und Geduld, die er in seinem Leiden erwies, daß er nicht wieder schalt, da er gescholten ward, nicht dräuete, da er litt und die Liebe in der Willigkeit auch in das Leiden zu gehen und sein Leben für uns zu lassen. Wiederum ein Vorbild ohne gleichen, das Trost und Kraft für Unzählige in sich schließt. Aber damit ist abermals die Bedeutung der heiligen Liebe, die im Leiden und Sterben Jesu Christi sich erwies, noch lange nicht erschöpft. Heiligkeit und Liebe, sie sind in Gott, sagten wir, mit innerer Notwendigkeit verbunden und bilden zusammen, wenn wir menschlich reden dürfen, die göttliche Vollkommenheit, die in sich selbst abgeschlossen, sich selbst völlig genug ist und doch sich liebend aufschließen will gegen andere, immer aber so, wie es dem Wesen seiner Heiligkeit entspricht. Aber nun tritt den Menschen gegenüber die Heiligkeit Gottes und die Liebe Gottes in gewissem Sinne auseinander durch das Verhalten Gottes gegen die Sünde und hiemit werden wir auf den Gedanken der Versöhnung hingeführt, welche die heilige Liebe Gottes gewirkt hat. Wir schreiten damit von der Lehre von der Person Christi zur Lehre vom Werk Christi weiter und reden unserm einmal ins Auge gefaßtem Gesichtspunkt entsprechend von der

versöhnenden Liebe in dem Werke Christi,

und zwar zuerst von der Notwendigkeit der Versöhnung und dann von dem Versöhnungswerk Christi selbst.


I.

Eine Versöhnung setzt voraus, daß ein Streit eintrat, daß etwas zwischen zweien lag. Der deutsche Ausdruck Versöhnung hängt mit Sühne zusammen, daß man dem andern etwas bietet, was ihn, was sein Gemütsleben sozusagen wieder befriedigen kann, ein Gedanke entsprechend dem deutschen Gemüt. Die lateinische Sprache hat zwei Ausdrücke für Versöhnung: der eine ist etwa dem deutschen Wort entsprechend eine Sache so hinausführen, daß das Pietätsverhältnis wieder hergestellt ist, der andere, meist gebrauchte, bedeutet Genugtuung, ist also sozusagen vom Rechtsstandpunkt aus gefaßt, für eine vorgekommene Schädigung oder Beleidigung Genugtuung