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Völkern geschieden, aber zugleich auch das Heil für Israel immer mehr vorbereitet. Es richtete den Blick auf das, was kommen sollte. Der ganze Gottesdienst, die Stätte der Anbetung, der Gedanke des Opferns sollte ein steter Hinweis auf das Kommende sein.

 Aber die Hauptbedeutung des Gesetzes hat uns Paulus (Röm. 3, 20) angegeben: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ Wir können im Gesetz das bürgerliche, das gottesdienstliche und das eigentliche Zucht- und Sittengesetz unterscheiden. Alles aber hat die Bedeutung dem Volk die göttliche Heiligkeit vor Augen zu stellen, das große Gebot (3. Mose 19, 2) ins Herz zu prägen: „Ihr sollt heilig sein; denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott.“ Und wenn Israel wollte, konnte es im Gesetz seine eigene Sündhaftigkeit erkennen. Demnach ist das Gesetz in der Hand Gottes ein wichtiges Erziehungsmittel Israels auf das kommende Heil hin, wenn es auch freilich die große Menge nicht erfaßte und auch uns ist es noch dazu gegeben. Möchte uns das Gesetz immer ein Zuchtmeister auf Christum hin sein und möchte auch an uns die Leitung unseres Lebens nicht vergeblich bleiben! Das sage ich besonders zu Ihnen, verehrte Schwestern, die Sie der Einsegnung entgegengehen. Sie blicken zurück auf die ganze Führung Ihres Lebens zum Beruf, den Sie erwählt haben; aber blicken Sie doch auch in diesen Tagen zurück auf die Lebensführung, die abzielt auf die Berufung zu Christo und zu seinem Heil. Wie freundlich hat Gott Sie alle geführt, damit Sie Christum erkennen und finden sollten als Ihren Heiland. Aber nicht zum wenigsten hat er Ihnen dazu auch das Gesetz gegeben als einen Spiegel. Luther ist zur Erkenntnis der Sünde dadurch geführt worden, daß er den ernstgemeinten Versuch machte, durch gute Werke – also im Grunde durch des Gesetzes Werke – zum Frieden zu kommen. Wir brauchen diesen Umweg nicht zu machen. Wir wissen, das Gesetz ist uns gegeben als ein Spiegel zur Erkenntnis der Sünde, wenn wir uns ernstlich darnach prüfen. Möchten wir das täglich und getreulich tun!

 Doch auch der andere Weg ist für uns nicht ausgeschlossen. Je mehr wir ernstlich uns bestreben der Heiligung nachzujagen, ohne welche niemand den Herrn sehen kann und das Gesetz des Geistes, das Gesetz Christi, zu erfüllen, desto mehr erkennen wir die Macht der Sünde über uns. Daher kommt es auch: je älter wir werden, desto tiefer muß die Erkenntnis der Sünde werden, desto demütigender wird für uns die Erfahrung, wie wenig wir doch weiter kommen auf dem Weg der Heiligung. So werden wir wieder zu der Frage zurückgeführt, von der wir ausgegangen sind, zu der Frage: „Wie können wir dem zukünftigen Zorn entrinnen?“ Nur wenn wir in wahrer Buße unsere Sünden erkennen und uns zu dem halten, der als Sündentilger uns verordnet ist.