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 Betrachten wir die Erbsünde nach diesen beiden Seiten hin. Vor allem als Defekt. Sie ist Untüchtigkeit zum Guten, es ist nicht da, was da sein sollte. Wie oft wird die kirchliche Lehre von der Erbsünde nach dieser Seite hin mißdeutet und mißverstanden. Wenn wir sagen: Der Mensch ist von Natur untüchtig zum Guten, so ist nicht das menschlich Gute gemeint. Menschlich Gutes, menschlich Großes kann der Mensch aus eigener Kraft immer noch vollbringen, denn er hat Vernunft und freien Willen. Aber freilich was vor Gott gut ist, vermag der Mensch aus eigener Kraft nicht, nämlich Furcht und Liebe zu Gott im Herzen zu haben. Das zeigt Luther so unübertrefflich schön in der Auslegung der Gebote. Furcht und Liebe zu Gott müssen im Menschen sein, wenn man das Böse meiden und das Gute vollbringen will. Immer müßte der Christ den heiligen und allwissenden Gott vor Augen haben, da würde er nie und nimmer sündigen. Er müßte auch immer den Gott, der die Liebe ist, im Herzen haben, dann triebe ihn die Gegenliebe zur Erfüllung des Gesetzes; ja sie ist schon selbst des Gesetzes Erfüllung. Aber das ist nicht da, wie die Augsburgische Konfession im 2. Artikel ausdrücklich sagt, daß von Natur Furcht und Liebe Gottes nicht im Herzen wohnt. Vielmehr ist im Herzen ein verkehrter Affekt, die Lust und Neigung zum Bösen, die Lust zum Verbotenen. Wie leicht mußte das der Christ erkennen. Wir haben schon auf die dreifache Gestalt der bösen Lust aufmerksam gemacht: Augenlust, Fleischeslust, Hoffart des Lebens. Wo der Apostel 1. Joh. 2 davon spricht, bringt er es selbst mit der Liebe in Verbindung. Er ermahnt zur Liebe zu Gott und sagt im Gegensatz dazu: „Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist.“ Diese dreifache Gestalt der bösen Lust kann man wohl in Verbindung setzen mit dem leiblichen, seelischen und geistigen Leben des Menschen. Fleischeslust geht auf des Menschen leibliches Dasein; sie ist Genußsucht, Befriedigung leiblicher Bedürfnisse losgelöst von Gott. Augenlust geht auf das seelische Leben, Eitelkeit, Oberflächlichkeit gehören besonders auch dazu. Die Hoffahrt aber geht auf das geistige Leben. Gott gegenüber zeigt sie sich als Unglaube, Meistern des Wortes, den Menschen gegenüber als Erhebung über andere, Hochmut, Zorn und Feindschaft. Aus ihr kommt dann die furchtbarste Frucht der Sünde, die gleich beim ersten Menschen, der geboren ist, bei Kain, sich zeigte: der Mord. Das alles sind grauenvolle Folgen der Zerreißung des Liebesbandes zwischen Gott und den Menschen.


IV.

 Aber, wir dürfen davon nicht reden, ohne auch noch zu sprechen von dem Gericht der göttlichen Heiligkeit: Zorn statt Liebe. Wir haben schon davon geredet, daß die Erbsünde auch