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Er führt und hat manche geführt zu einer religiösen Gesinnung – das ist anzuerkennen –, aber Christum den Sohn Gottes predigt er nicht. Daß der Christenglaube im wesentlichen auf den 1. Artikel beschränkt wurde, das war beim alten Rationalismus der Fall und das ist die Religion des neuen Rationalismus. Es ist dies aber doch zugleich auch die Religion und Art des natürlichen Menschen, sozusagen des großen Haufens. Diejenigen Schwestern, die selbst vom Lande stammen oder mit Landleuten in ihrem Beruf zusammengeführt wurden, werden oft beobachten können ein bewundernswertes Maß von Gottvertrauen, das die Landbevölkerung in schwierigen Jahren zeigt und das sie in schönen Sprichwörtern ausprägt, wie ich es einmal in einer Notzeit von einem Bauern hörte: „Der ober uns hält schon länger Haus.“ Aber freilich damit ist Christus und der Weg zum Vater noch nicht gezeigt. In Stadt und Land, das wird besonders an Krankenbetten oft bemerkt werden können, sehen die meisten Jesum doch nur von seiten des Vorbildes an, daß er – wie die Leute naiv sagen – auch soviel hat ausstehen müssen. Da fehlt die wahre Erkenntnis Jesu Christi und es wird immer die Pflicht der Schwestern gegenüber den Kranken sein, sie weiterzuführen zu dem Standpunkt, daß wir durch Christum allein den Vater haben. Wer den Sohn aber nicht hat, der hat auch den Vater nicht. Man wird gegenüber dieser religiösen Stellung der Mehrzahl unserer Gemeindeglieder mit Vorsicht vorzugehen haben, von dem ausgehen was sie haben, aber ihnen zeigen müssen, daß sie das feste Kindesvertrauen auf den Vater nur durch Christum allein und seine Gerechtigkeit gewinnen können.

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 Aber es gibt nun auch den entgegengesetzten Irrtum, es gibt auch eine Zurückstellung des 1. Glaubensartikels und des Schöpfungswerkes. In den Kreisen der Gemeinschaft, das wird jedem aufgefallen sein, der mit Gliedern derselben nähere Fühlung hat, heißt es immer: der Herr, nämlich also Jesus, auch wo von Gott dem Vater und Schöpfer zu reden wäre. Beachten wir, daß der Apostel seine Gebete für gewöhnlich und meist an den Vater richtet und daß zu Christo eben gebetet wird, wenn wir ihn um seine mittlerische Fürsprache anrufen oder die Angelegenheiten der Kirche ihm vortragen oder unserer Dankbarkeit für seine teuere Erlösung sonderlich Ausdruck geben wollen; aber sonst lehrt uns Christus selber durch ihn zum Vater beten. Es liegt bei diesem Neupietismus, wie man die Gemeinschaftsrichtung wohl nennen kann, eine gewisse Verkennung der Schöpfungsordnung zugrunde. Hinsichtlich der natürlichen Gaben heißt es da nicht mit dem Grundsatz des Apostels: „Es ist alles euer“, sondern da wird in gesetzlicher Weise gesagt: Du sollst dieses und jenes nicht tun, dieses und jenes nicht anrühren. Oft tritt uns auch eine Verkennung der dem Christen obliegenden