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Er hörte sie kommen, da öffnete er die Lider und sagte lächelnd: „Mutter und Sohn sind beide gekommen, das ist gut.“

Dann schloß er die Augen wieder.

Schneeflocke erschrak sehr und sprach: „Was willst du tun?“

Sie sah nach, da hatten sich die Lotosblumen an seinen Beinen weit geöffnet. Sie befühlte ihn, sein Atem stand schon still.

Eilig hielt sie mit beiden Händen die Lotosblumen zu und sagte bebend: „Ich bin aus weiter Ferne gekommen, dir zu folgen, das war nicht leicht. Ich habe dir den Sohn erzogen und die Schwiegertochter gelehrt, das alles hab’ ich dir zuliebe getan. Warum willst du nicht noch zwei, drei Jahre auf mich warten?“

Nach einer Stunde öffnete er plötzlich die Augen und sagte lächelnd: „Frau, du hast doch deine eigenen Geschäfte, warum mußt du einen andern herbeiziehen dir zum Genossen? Immerhin, ich will um deinetwillen bleiben.“

Sie ließ die Hände los, da hatten sich die Blumen wieder geschlossen. Und so blieben sie beieinander wohnen, plaudernd und lachend wie zuvor.

Drei Jahre waren verflossen. Schneeflocke war schon nahe an vierzig; aber noch immer war sie jung und schlank wie ein zwanzigjähriges Mädchen.

Einst sagte Schneeflocke zu Yüo Dschung: „Wenn man gestorben ist, so muß man sich von andern Leuten beim Kopf und bei den Füßen nehmen lassen. Das ist nicht rein und schön.“

Darum ließen sie vom Zimmermann ein paar Särge machen.

Schmerzenreich fragte erstaunt nach dem Grunde.

Sie aber sprachen: „Das verstehst du nicht.“

Nachdem die Arbeit fertig war und sie gebadet und sich geschmückt hatte, sprach sie zum Sohne und seiner Frau: „Ich werde jetzt sterben.“

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_349.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)