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ihnen nach. Die Menge sah, wie alle die vielen Lotosblumen sich in ein Abendrot verwandelten, das das Meer färbte wie Brokat. Nach einer kleinen Weile wurden die Wolken wieder matt und die Wogen klar, und alles war dunkel.

Yüo Dschung stand einsam am Ufer. Er wußte selbst nicht, wie er wieder herausgekommen war. Kleider und Schuhe waren ganz trocken. Da blickte er lange sehnsüchtig nach dem Meer und begann zu weinen. Seine Stimme hallte wider von den Inseln und Klippen.

Schneeflocke suchte ihn leise zu trösten. Traurig verließen sie den Tempel. Man mietete ein Schiff zur Rückreise nach Norden. Als sie gelandet, wurde Schneeflocke von einem reichen Herrn in Dienst genommen. Yüo Dschung setzte einsam seine Reise fort. Er traf einen Knaben von acht, neun Jahren, der vor den Häusern bettelte; doch sah er nicht aus wie ein Betteljunge. Als er ihn genauer fragte, erfuhr er, daß er von seiner Stiefmutter verstoßen worden sei. Er hatte Mitleid mit ihm. Der Knabe war anhänglich und wollte sich nicht von ihm trennen. Flehentlich bat er, ihn doch zu retten. So nahm er ihn mit nach Hause. Er fragte ihn nach seinem Namen.

Er sagte: „Ich heiße Schmerzenreich. Ich wuchs auf im Hause eines Mannes namens Yung; aber meine Mutter sagte, ich sei das Kind eines Mannes namens Yüo, der sie nach der Hochzeit verstoßen habe.“

Yüo Dschung erschrak und dachte bei sich: „Wäre es möglich, daß dies mein Sohn ist?“

Er fragte weiter, wo denn der Mann namens Yüo gewohnt habe.

Der Junge erwiderte: „Ich weiß es nicht; doch als meine Mutter starb, da gab sie mir ein Schriftstück und ermahnte mich, es nicht zu verlieren.“

Hastig verlangte Yüo Dschung das Schriftstück.

Schmerzenreich öffnete seine Tasche und nahm es heraus. Yüo Dschung überflog es; da war es der Scheidebrief, den er damals seiner Frau gegeben.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_346.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)