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Der Jüngling lehnte ab; er müsse Fische holen für seine kranke Mutter und habe wirklich keine Zeit. Da reichte ihm der Greis die Hand und machte einen andern Tag mit ihm aus. Er solle nur in das Dorf gehen und nach dem alten Wang fragen. Dann verabschiedete er sich und ging.

Der Jüngling kehrte heim, bereitete die Fische und gab sie seiner Mutter zu essen. Die Krankheit wurde besser, und nach ein paar Tagen war sie wieder gesund. Da nahm er einen Knecht und Pferde mit sich und ging, den Greis zu suchen. Am alten Platze angekommen, fand er den Ort des Dorfes nicht wieder. Unter dem Suchen verstrich die Zeit. Die Abenddämmerung fiel allmählich nieder, die Gegend war zerklüftet, und ein freier Ausblick war nicht möglich. Da trennte er sich von seinem Knechte und stieg auf einen Berg, um Ausschau zu halten nach einer menschlichen Niederlassung. Aber der Bergpfad war steil und steinig, man konnte nicht mehr reiten; so kletterte er denn zu Fuß empor. Die Abendnebel stiegen, und wie er sich auch umblickte, es war kein Dorf zu sehen. Schon wollte er wieder den Berg hinab; aber er hatte den Weg verloren, und die Aufregung brannte ihm im Herzen wie Feuer. Mitten im hastigen Suchen fiel er im Dunkeln eine steile Felswand hinunter. Glücklicherweise war einige Fuß weiter unten ein kleiner ebener Grasfleck, auf den er beim Fallen zu liegen kam, nur eben so breit, daß er Platz darauf hatte. Er blickte nach unten, da sah er vor sich die schwarze, bodenlose Tiefe. In seiner Angst wagte er sich nicht zu rühren. Zum Glück wuchsen am Rande des Abgrundes kleine Bäume, die ihn wie ein Geländer umgaben. Nach einiger Zeit entdeckte er zu seinen Füßen die Öffnung einer kleinen Höhle. Die Freude leuchtete ihm im Herzen auf; er kroch auf allen vieren hinein. Er wollte ein wenig ruhen, in der Hoffnung, am andern Tage Hilfe herbeirufen zu können. Auf einmal erblickte er in der Tiefe einen Lichtschein wie ein Sternchen. Er ging darauf zu. Nach zwei, drei Meilen entdeckte er plötzlich Gebäude.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_339.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)