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Sie sagte dann im Dorfe aus, der Leichnam, den man dazumal im Fluß gefunden, sei doch nicht ihres Sohnes Leib gewesen. Allein sie wurde der Befürchtung nicht ganz ledig, daß ein abgeschiedener Geist kein Kind bekommen könne.

Nicht lange darauf, so hielt sie trotzdem einen Enkel in den Armen. Sie sah ihn an: er unterschied sich nicht von andern Knaben. Da erst ward ihre Freude voll.

Im Laufe der Zeit ward Abendrot allmählich gewahr, daß Aduan kein wirklicher Mensch war. „Warum hast du es nicht gleich gesagt?“ sprach sie zu ihm; „abgeschiedene Geister, die des Drachenschlosses Kleider tragen, umgeben sich mit einer so festen Seelenhülle, daß sie sich nicht von Lebenden mehr unterscheiden. Wenn man im Schloß den Leim aus Drachenhorn bekommt, kann man die Knochen so zusammenkleben, daß Haut und Fleisch darüberwächst. Wie schade, daß wir das Mittel uns damals nicht verschaffen konnten!“

Aduan verkaufte seine Perle. Ein fremder Kaufmann bezahlte einen ungeheuren Preis dafür. So kam das Haus zu großem Reichtum. Als seine Mutter einst Geburtstag feierte, da tanzte er mit seiner Frau und sang, sie zu erfreuen. Das ward bekannt, und bis zum Königsschlosse drang die Nachricht. Der König wollte Abendrot nun mit Gewalt entführen. Aduan, besorgt, trat vor den König und sagte aus, er und sein Weib, sie seien beide abgeschiedene Geister. Man prüfte ihn, und da er keinen Schatten warf, so fand er Glauben. So wurde Abendrot denn nicht geraubt.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 332. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_332.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)