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den Wellen. Da kam ein Schiff vorüber und nahm sie auf. Man fragte nach ihrer Heimat. Abendrot war ursprünglich eine berühmte Sängerin von Wu gewesen, die ins Wasser gefallen war, ohne daß man ihren Leichnam fand. Sie dachte nun bei sich selbst, daß sie doch nicht wieder in ihre alten Verhältnisse zurückkehren könne. So sagte sie denn: „Frau Dsiang in Dschen-Giang ist meine Schwiegermutter.“ Die Reisenden mieteten ihr nun ein Schiff, das sie nach jenem Orte brachte. Die Witwe Dsiang meinte, sie irre sich. Das Mädchen aber blieb dabei, es sei kein Irrtum, und erzählte nun der alten Frau ihre ganze Geschichte. Die hatte an ihrer großen Lieblichkeit ein Wohlgefallen, doch machte sie sich Sorgen, daß sie zu jung sei, um ihr Leben als Witwe zu verbringen. Allein das Mädchen war ehrfurchtsvoll und fleißig, und als sie sah, daß Armut in dem Hause herrschte, da nahm sie ihren Perlenschmuck und verkaufte ihn für teures Geld. Die alte Frau war hocherfreut, da sie erkannte, wie ernst es dem Mädchen war. Doch da sie keinen Sohn mehr hatte, fürchtete sie, daß, wenn das Mädchen niederkäme, die Nachbarn und Verwandten die Geschichte nicht recht glauben möchten. So ging sie mit dem Mädchen denn zu Rate. Die aber sprach: „Wenn Ihr nur wirklich einen Enkel bekommt, was braucht Ihr um der Menschen Meinung Euch zu kümmern!“ Dabei beruhigte sich die Alte denn auch.

Als sichs nun traf, daß Aduan wieder kam, da wußte sich das Mädchen vor Freude nicht zu lassen. Und auch der Alten stieg die Hoffnung auf, ihr Sohn sei vielleicht nicht wirklich gestorben. Sie grub im stillen im Grabe ihres Sohnes nach, doch lagen da die Knochen alle noch. Sie fragte nun den Aduan. Da erst kam diesem zum Bewußtsein, daß er ein abgeschiedener Geist war. Er fürchtete, daß Abendrot, weil er kein Mensch sei, einen Abscheu hegen möchte. Darum befahl er seiner Mutter an, sie solle ja nichts wieder sagen. Und sie versprach es auch.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 331. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_331.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)