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auseinander und kam herein. Es war Abendrot. Sie erblickten einander voll freudigen Schreckens und erzählten, wie sie sich so sehr gesehnt. Auch sprachen sie von ihrem früheren Leben.

Dann beschwerten sie die Blütenschirme mit Steinen, so daß sie sich zur Erde neigten und eine sichere Schutzwand bildeten. Sie häuften sich ein Lager aus Lotosblättern, auf dem sie heimlicher Liebe Freuden genossen. Sie versprachen einander, sich jeden Abend nach Sonnenuntergang hier zu treffen. Dann schieden sie.

Aduan kam heim, und seine Krankheit wandte sich zum bessern. Von da ab trafen sich die beiden täglich im Lotosfeld.

Nach ein paar Tagen mußten sie mit dem Fürsten der Drachenhöhle zur Geburtsfeier des Wu-Fluß-Königs gehen. Die Feier war zu Ende, und alle Reigen kehrten heim. Nur Abendrot und eine aus dem Nachtigallenreigen hatte der König zurückbehalten, um die Mädchen seines Schlosses tanzen zu lehren.

So vergingen Monate, und es war nichts von Abendrot zu hören. Sehnsucht und Verzweiflung trieben Aduan um. Nur Mutter Hiä ging täglich nach dem Schloß des Wu-Fluß-Gottes. Er schützte vor, die Abendrot sei seine Base, und er bat sie flehentlich, ihn mitzunehmen, damit er sie nur einmal sehen könne. Sie nahm ihn mit und ließ ihn ein paar Tage in des Flußgottes Torhaus wohnen. Aber so streng war die Abschließung im Schlosse, daß Abendrot auch nicht ein einziges Mal ihn sehen konnte. Betrübt kehrte er zurück.

Abermals verging ein Monat, und voll schwermütiger Gedanken wünschte er sich nur den Tod herbei.

Eines Tages trat die Mutter Hiä herein und sprach ihm mitleidvoll ihr Beileid aus. „Wie schade,“ sagte sie, „die Abendrot ist in den Fluß gesprungen.“

Aduan erschrak aufs äußerste. Unaufhaltsam flossen ihm die Tränen herab. Er zerriß die schönen Kleider,

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 329. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_329.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)