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schwoll ihm das Herz noch mehr. Sie deutete auf einen Platz dort unten an der Mauer und stieg dann herab; der Nachbar aber dachte an ein Stelldichein und kam bei Dämmerung erfreut dahin. Er sah sie auch und ging nun auf sie zu; mit einem lauten Aufschrei aber taumelte er zurück: Es war nicht Ying Ning, es war der Schimmer eines faulen Baumes nur, und ein Skorpion in einem Astloch hatte ihn dort gestochen. Der alte Nachbar kam herbei und seine Frau, die fragten ihn, und er erzählte alles; aber in derselben Nacht noch mußte er sterben. Da verklagten denn die Nachbarsleute Wang, weil er mit Ying Ning Hexenkünste treibe. Der Beamte aber wußte, daß Wang ein ehrbarer Gelehrter war. Deshalb erklärte er die Klage seines Nachbars für Verleumdung und wollte ihn zur Strafe prügeln lassen. Weil sich aber Wang für ihn verwendete, entließ er ihn. Wangs Mutter aber sprach zu Ying Ning: „Du mit deinem kecken Wesen! Ich habs wohl gewußt; Übermut tut niemals gut. Der Richter ist von klarem Geist, so sind wir noch verschont geblieben. Aber wär er dumm, es hätte sicher Weib und Kind nun öffentlich vor dem Gerichte Zeugnis geben müssen. Mit was für einem Antlitz hätte dann mein Sohn vor die Verwandten treten müssen?“ Da sah nun Ying Ning ernst drein und lachte nicht mehr wieder. Die Mutter sagte zwar, sie müsse nicht vom Lachen völlig lassen, nur zu seiner Zeit; aber Ying Ning lachte nicht mehr wieder, auch wenn man sie lachen machen wollte. Trotzdem aber ließ sie auch den Kopf nicht hängen.

Eines Abends saß sie ihrem Manne gegenüber, und es rollten ihr die Tränen nieder. Auf seine Frage sagte sie ihm mit erstickter Stimme: „Wenn ich denke, daß ich erst so kurze Zeit bei dir bin, dürfte ich es wohl nicht sagen; denn du könntest ja erschrecken oder Anstoß nehmen. Aber weil ich sehe, daß ihr beide, du und deine Mutter, mich so lieb habt ohne Rückhalt, hoffe ich, daß es nichts tut, wenn ich nun offen mit dir spreche: Ich bin

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_316.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)