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sie nun keine Heimat habe, sondern immer und zu allem lachte sie voll Übermut.

Sie kam an jedem Morgen früh zum Bett der Mutter, um sie zu begrüßen; sie war flink in jeder Handarbeit. Nur war sie stets dem Lachen nah, und ob man es ihr auch verbot, sie konnte es nicht lassen. Freilich war ihr Lachen hübsch: sie lachte toll, doch tat es ihrer Anmut keinen Eintrag. Ein jeder hatte sie darum auch lieb, und in der Nachbarschaft die jungen Frauen und die Mädchen stritten sich, von ihr besucht zu werden. So wählte denn die Mutter einen Tag, der Glück verhieß, um da die Hochzeit abzuhalten. Weil sie aber fürchtete, es wäre am Ende doch ein Geisterwesen, so beobachtete sie sie heimlich in der Sonne. Der Schatten war aber durchaus nicht schwach, nicht anders als gewöhnlich. So kam der Hochzeitstag. Sie hatte prächtige Gewänder angelegt und war bereit zur Trauungszeremonie. Doch als es anfing, fing sie neuerlich zu lachen an und konnte keinerlei Verbeugung machen, so daß man die Feierlichkeit kürzen mußte.

Jedesmal wenn die Mutter trübe oder voller Ärger war, so kam und lachte sie und vertrieb alle üble Laune. Hatten in dem Haus die Mägde etwas angestellt und fürchteten sie Schläge, so kamen sie zu ihr und baten um ein gutes Wort bei ihrer Schwiegermutter, dann geschah ihnen kein Leid. Sie hatte eine Liebe zu den Blumen, wahrhaft voller Leidenschaft. In der Verwandtschaft bat sie überall darum; ja sie versetzte sogar ihre goldenen Spangen, um dann besonders schöne Arten einzukaufen. Nach wenig Monaten war alles voller Blumen, Gartenwege und Treppenstufen, daß es keinen Platz mehr ohne Blumen gab. Eine starke Kletterrose war hinter dem Haus unmittelbar am Nachbargarten. Oft stieg Ying Ning da hinauf, um Blüten abzubrechen für ihr Haar. Eines Tages sah sie dort der Nachbarsohn und starrte unverwandten Blicks nach ihr. Sie wich dem Blick nicht aus; sie lachte noch dazu. Der Nachbar meinte, daß sie einverstanden sei, und so

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_315.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)