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ist doch selbstverständlich, daß sich Verwandte lieben!“ Wang entgegnete: „Die Liebe, von der ich spreche, ist nicht Verwandtenliebe, sondern eine Liebe zwischen Mann und Frau.“ – „Ist da ein Unterschied?“ – „Gewiß, da ist man nachts beisammen.“ Das Mädchen dachte eine gute Weile mit gesenktem Haupte nach und sagte dann: „Ich pflege nicht mit andern Leuten nachts zu schlafen!“ Sie hatte noch nicht ausgeredet, da kam die Dienerin herbei; der Jüngling aber ging verwirrt von dannen. Erst später trafen sie sich wieder bei der Mutter. Die fragte, wo sie denn gewesen seien. Das Mädchen sagte: „Der Vetter möchte gern des Nachts mit mir beisammen sein!“ Wang warf ihr, sehr verlegen, warnend einen Blick zu, worauf Ying Ning lächelte und nicht mehr weiter sprach. Die Alte hatte wohl zum Glücke nichts verstanden.

Die Mahlzeit war beendet, als von Wangs Familie ausgesandte Leute mit zwei Eseln kamen. Nach langer Irrfahrt hatten sie den Herrn gefunden. Wang bat die Alte, Ying Ning zu erlauben, mit ihm heimzukehren zu der Mutter. Mit Freuden wurde ihm willfahren: „Nicht erst seit heute oder gestern“, hieß es, „war dies meine Absicht; es ist gut, daß du sie zu der Tante führen kannst, sie soll sie kennen lernen.“ Dann rief die Alte Ying Ning, hieß sie ihre Sachen packen und mit ihrem Vetter gehen. Sie sorgte noch für Mundvorrat und sagte dann zu Ying Ning: „Die Familie deiner Tante hat Vermögen und kann leicht noch jemand mehr ernähren. Du brauchst gar nicht erst wieder heimzukommen. Lerne dort Anstand und Musik, damit du später deinen Schwiegereltern dienen kannst, und dann bemüh die Tante gleich, dir eine passende Partie zu finden!“ So entließ sie Wang und Ying Ning.

Bei ihrer Ankunft war Wangs Mutter sehr erstaunt über das schöne Mädchen und befragte ihren Sohn, wer es denn sei, worauf er sagte, es sei seine Base. Da sprach die Mutter: „Was Vetter Wu dir neulich sagte, war doch nur erlogen.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 313. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_313.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)