Seite:Wilhelm ChinVolksm 310.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

einen Zweig mit Aprikosenblüten in den Händen, den es sich gebeugten Kopfes in das Haar zu stecken mühte. Doch als sie da den Jüngling sah, hielt sie ein wenig an und lächelte und ging ins Haus, und ihre Finger spielten mit dem Zweige. Er konnte sehen, daß es eben jenes Mädchen war, das er auf dem Laternenfest getroffen hatte. Da kam unvermittelt große Freude in sein Herz, nur führte ihn kein Weg zu ihr. In der Tür war niemand, an den er sich da hätte wenden können, und so saß und lag und ging er nun den ganzen Tag umher bis gegen Abend, vollen Herzens, und er dachte nicht an Durst und Hunger. Manchmal nur sah er ein Mädchen, das wohl nach ihm spähte und sich wunderte, daß er nicht gehe. Plötzlich aber kam auf einen Stock gestützt ein altes Weiblein heraus, erblickte ihn und sprach: „Wo kommt Ihr her? Ich höre, daß Ihr seit dem frühen Morgen hier draußen wartet. Was gedenkt Ihr denn zu tun? Habt Ihr keinen Hunger?“ Der Jüngling stand rasch auf, verneigte sich vor ihr und sprach: „Verwandte möchte ich besuchen.“ Er mußte es zweimal sagen, bis die schwerhörige Alte ihn verstand; dann fragte sie ihn nach dem Namen seiner werten Anverwandten. Als er den nicht wußte, lachte sie und lud ihn zu sich ein: er müsse den Besuch ja doch verschieben. Erfreut ging er der Alten nach durchs Tor und auf dem Weg, der ganz von weißen Steinen war und den in dichten Büscheln rote Blumen rings umsäumten. Die Wände in den Räumen innen waren weiß und glatt wie Spiegel. Durch die Fenster hingen Blütenbüsche eines Apfelbaumes. Kissen, Teppiche, die Tischchen und das Bett, es war da alles rein und schön. Während auf Geheiß der Alten eine Dienerin das Mahl bereitete, erzählte er von sich und seinen Anverwandten. Da fragte ihn die Alte plötzlich: „Heißt Euer Großvater nicht Wu?“ Nachdem er es bejahte, erklärte sie: „Dann seid Ihr ja mein Neffe! Eure Mutter ist meine jüngere Schwester. Weil wir diese Jahre her in sehr bescheidenen Verhältnissen leben

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_310.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)