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einverstanden sein, wenn sie nur erst den ganzen Sachverhalt erfahren.“ Da stieg dem jungen Wang die Freude wohl bis zu den Augenbrauen, und er fragte nach der Wohnung. Wu – vermessen wie er war – erklärte: „Auf dem Südwestberg. Zwei Meilen wohl von hier.“ Als Wang ihn dann beschwor, die Sache weiter zu besorgen, versprach ihm jener alles gerad heraus und ging.

Wang schritt nun täglich fort in der Gesundung. Er griff nach der Blume unter seinem Kissen, und er sah sie an. Sie war wohl trocken, aber unversehrt, und er ließ seinem Denken freien Lauf und spielte mit der Blume so, als wäre sie das Mädchen. Er wurde böse, daß sein Vetter solang ausblieb. Er sandte Botschaft; aber Wu gebrauchte Ausflüchte und kam nicht mehr. Der junge Wang ward mißmutig und beunruhigt. Da besann er sich, daß eigentlich zwei Meilen gar nicht viel bedeuten, daß man darum nicht auf fremde Gnade angewiesen sei. Die Blume in dem Ärmel machte er sich trotzig auf den Weg.

Es wußte niemand was davon; er ging allein und traf auch niemand, den er hätte nach dem Wege fragen können. Als er zwei Meilen in der Richtung nach dem Südwestberg gegangen war, türmten sich vor ihm die Felsen auf. Erfrischend wirkte dort das helle Grün, es war ganz still, nur die Vögel flogen hin und her. In der Ferne tief im Tal sah man ein kleines Dörfchen wie in einem dichten Garten stehen. Dort ging er hin. Nicht viele Häuser waren da, doch wirkten sie recht hübsch und anmutig unter den Strohdächern. Im Norden stand ein Haus, vor dessen Tür Trauerweiden wuchsen. Pfirsich- und Aprikosenbäume, untermischt mit schlankem Bambus, überragten seine Mauer, hinter der die Vögel zwitscherten und sangen. Er stieg auf einen großen, glatten, reinen Felsblock, der der Tür gegenüber stand, um sich dort auszuruhen. Plötzlich hörte er hinter der Mauer eine weiche, feine Mädchenstimme langgezogen einen Namen rufen, und da sah er auch das Mädchen, gegen Westen gehend,

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_309.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)