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93. Der herzlose Gatte

Hangtschou war früher die Hauptstadt des südlichen China. Deshalb hatten sich viele Bettler dort zusammengefunden. Die Bettler pflegten einen Führer zu wählen, der amtlich bestätigt wurde zur Aufsicht über die Ausübung des Bettelns. Er hatte darüber zu wachen, daß die Bettler die Einwohner der Stadt nicht belästigten. Er bekam von allen Bettlern ein Zehntel ihrer Einnahmen. Bei Schnee und Regenwetter, wenn man nicht auf den Bettel konnte, hatte er dafür zu sorgen, daß die Bettler etwas zu essen bekamen, ebenso hatte er die Hochzeiten und Beerdigungen zu leiten. Die Bettler aber gehorchten ihm in allen Stücken.

In Hangtschou nun war solch ein Bettlerfürst mit Namen Gin, in dessen Sippe hatte sich das Amt schon seit sieben Geschlechtern fortgeerbt. Was sie an Bettelpfennigen erhielten, hatten sie auf Zinsen ausgeliehen. So wurde das Haus allmählich wohlhabend und schließlich sogar reich.

Der alte Bettler hatte mit fünfzig Jahren seine Frau verloren. Er hatte nur ein einziges Kind, das war ein Mädchen namens Goldtöchterchen. Sie war überaus schön von Gesicht, und er liebte sie wie einen Schatz. Von Jugend auf war sie in den Büchern bewandert. Sie konnte schreiben, dichten und Aufsätze machen; auch war sie in weiblichen Handarbeiten erfahren, geschickt in Gesang und Tanz, in Flöten- und Zitherspiel. Der alte Bettlerfürst wollte für seine Tochter unter allen Umständen einen Gelehrten als Bräutigam. Aber weil er Bettlerfürst war, so mieden ihn die vornehmen Familien, und mit den geringeren wollte er nichts zu tun haben. So kam es denn, daß das Mädchen achtzehn Jahre alt wurde und noch nicht versprochen war.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_289.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)