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um Wasser zu schöpfen. Er fischte es auf und brachte es ins Kloster.

Als der Abt die blutige Handschrift sah, befahl er den Priestern und Lehrlingen, niemand etwas von der Sache zu sagen. Und er zog das Knäblein auf im Kloster.

Als es fünf Jahre alt war, da unterwies er es im Lesen der heiligen Schriften. Der Knabe war klüger als alle seine Mitschüler, verstand bald den Sinn der heiligen Schriften und drang immer tiefer in ihre Geheimnisse ein. So wurde er denn zu den Gelübden zugelassen, und als ihm das Haupthaar geschoren wurde, erhielt er den Namen „der Mönch vom Yangtsekiang“.

In seinem zwölften Jahre war er stark und groß wie ein erwachsener Mann. Der Abt, der wußte, welche Pflicht ihm noch zu erfüllen oblag, berief ihn in ein stilles Zimmer. Dort nahm er die blutige Handschrift und den Finger hervor und gab ihm beides.

Als der Mönch die Schrift gelesen hatte, da warf er sich zur Erde und weinte bitterlich. Dann dankte er dem Abt für alles, was er an ihm getan hatte. Er machte sich auf nach der Stadt, in der seine Mutter wohnte. Er lief rings um das Amtsgebäude herum, schlug auf den Holzfisch und rief: „Erlösung von allem Leid! Erlösung von allem Schweren!“

Seit der Räuber, der seinen Vater ermordet hatte, unter falschem Namen jenes Amt erschlichen, hatte er es sich angelegen sein lassen, durch mächtige Verbindungen sich dauernd in dem Amte festzusetzen. Die Frau aber, die nun schon über zehn Jahre bei ihm ausgeharrt hatte, ließ er allmählich etwas freier.

An jenem Tag war er in Amtsgeschäften auswärts. Die Frau saß zu Hause, und als sie draußen vor der Tür den Holzfisch so eindringlich schlagen hörte und die Erlösungsworte vernahm, da sprach die Stimme des Herzens in ihr. Sie sandte der dienenden Mädchen eine, den Priester hereinzurufen. Er trat zum hinteren Tore ein. Und als sie

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_287.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)