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„Wenn es dir nicht gelingt,“ sprach der Graf, „beschleunigst du mein Unglück.“

„Ein Mißerfolg ist gar nicht möglich“, antwortete die Sklavin.

Dann ging sie in ihr Zimmer und rüstete sich für die Reise. Sie kämmte ihr Rabenhaar, band es in einen Knoten auf dem Scheitel und steckte es mit einer goldenen Nadel fest. Dann zog sie ein purpurgesticktes, kurzes Gewand an und gewobene Schuhe aus dunkler Seide. Im Busen barg sie einen Dolch mit Drachenlinien, und an die Stirne schrieb sie sich den Namen des großen Gottes. Dann verneigte sie sich vor dem Grafen und verschwand.

Der Graf goß sich Wein ein, um auf sie zu warten, und als das Morgenhorn erschallte, da senkte sich leicht wie ein schwebendes Blatt die Sklavin vor ihm nieder.

„Ist alles gut gegangen?“ sprach der Graf.

„Ich habe meinem Auftrag keine Unehre gemacht“, erwiderte das Mädchen.

„Hast du jemand getötet?“

„Nein, soweit ging ich nicht. Doch hab ich die goldene Büchse zu Häupten seines Lagers zum Pfande mitgebracht.“

Der Graf fragte, was sie alles erlebt habe, und sie begann zu erzählen:

„Zur Zeit des ersten Trommelwirbels brach ich auf und erreichte drei Stunden vor Mitternacht Webo. Als ich durch die Tore schritt, sah ich, wie die Schildwachen in den Wachtstuben schliefen. Ihr Schnarchen ertönte wie der Donner. Die Lagerwachen gingen auf und ab, und ich ging durchs linke Tor ins Schlafzimmer hinein. Da lag Euer Verwandter hinter seinem Vorhang auf dem Rücken in süßem Schlummer. Neben seinem Kissen sah ein kostbares Schwert hervor; dabei stand eine offene goldene Büchse. In der Büchse waren Zettel. Auf dem einen stand sein Lebensalter und sein Geburtstag, auf dem andern der Name des Gottes des Großen Bären. Weihrauchkörner und

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_272.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)