Seite:Wilhelm ChinVolksm 271.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Der Graf ließ ihn nach Hause.

Zu jener Zeit herrschte viel Streit und Eifersucht zwischen den Grafen am gelben Fluß. Der Kaiser wollte dadurch Frieden schaffen, daß er die Grafen untereinander Familienverbindungen eingehen ließ. So hatte die Tochter des Grafen von Ludschou den Sohn des Grafen von Webo geheiratet. Aber es half nicht viel. Der alte Graf von Webo war lungenleidend, und immer in der heißen Zeit wurde es schlimmer, und er pflegte zu sagen: „Ja, wenn ich Ludschou hätte! Dort ists kühler, da würde mir vielleicht wohler.“

So sammelte er denn dreitausend Krieger um sich, gab ihnen reichlichen Sold, befragte das Orakel um einen glückbringenden Tag und machte sich daran, Ludschou mit Gewalt zu besetzen.

Der Graf von Ludschou hörte davon. Tag und Nacht war er in Sorgen, doch fiel ihm kein Ausweg ein. Eines Nachts, als die Wasseruhr schon aufgestellt war und das Lagertor geschlossen, ging er, auf seinen Stab gestützt, im Hof umher. Nur seine Sklavin folgte ihm.

„Herr,“ sprach sie, „seit einem Monat flieht Euch Schlaf und Eßlust. Einsam und traurig lebt Ihr Eurem Leid. Ich müßte mich täuschen, wenn es nicht Webos wegen wäre.“

„Das geht auf Leben und Tod“, sprach der Graf. „Da versteht ihr Frauen nichts davon.“

„Ich bin nur eine geringe Magd“, sagte die Sklavin, „und dennoch habe ich Eures Kummers Grund erraten.“

Der Graf erkannte, daß Sinn in ihren Worten war, und sprach: „Du bist ein außerordentliches Mädchen. Tatsächlich überlege ich mir im stillen einen Ausweg.“

Die Sklavin sprach: „Das ist leicht zu machen. Ihr braucht Euch nicht darum zu kümmern, Herr! Ich will nach Webo gehen und sehen, wie es steht. Jetzt ist die erste Nachtwache. Wenn ich jetzt gehe, so kann ich zur fünften Nachtwache wieder zurück sein.“

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_271.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)