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schimmern und hörten Rosenrot tief seufzen. Der ganze Hof war einsam und still. Der Jüngling hob den Vorhang und trat ein. Rosenrot sah ihn lange prüfend an; dann sprang sie fröhlich von ihrem Ruhebett und faßte ihn bei der Hand.

„Ich wußte doch, daß Ihr klug seid und meine Fingersprache verstandet. Aber welche Zauberkräfte stehen Euch zu Gebote, daß Ihr hierher kamt?“

Der Jüngling erzählte ausführlich Molos Verdienste.

„Und wo ist Molo?“ fragte sie.

„Draußen vor dem Vorhang“, war die Antwort.

Dann rief sie ihn herein, gab ihm aus einer Jaspistasse Wein zu trinken und sprach: „Ich bin aus guter Familie fern von hier. Gezwungen nur bin ich Sklavin in diesem Haus. Ich sehne mich hinweg; denn wenn ich auch Jaspisstäbchen habe zum Essen und meinen Wein aus goldenen Kelchen trinke und Samt und Seide um mich schwellen und aller Schmuck mir zu Gebote steht: das alles sind für mich nur Fesseln und Bande. Guter Molo, du hast Zauberkräfte, ich bitte dich, rette mich aus dieser Not, dann will ich gerne deinem Herrn als Sklavin dienen und mein ganzes Leben diese Wohltat nicht vergessen.“

Der Jüngling blickte Molo an. Der war gerne bereit. Er bat um die Erlaubnis, erst in Taschen und Säcken die Aussteuer fortzuschaffen. Dreimal kam er und ging er, ehe es zu Ende war. Dann nahm er seinen Herrn und Rosenrot auf den Rücken und flog mit ihnen über die steilen Mauern hinweg. Keiner der Wächter im Schloß des Fürsten hatte irgend etwas gemerkt. Zu Hause verbarg der Jüngling Rosenrot im stillsten Gemach.

Als der Fürst entdeckte, daß ihm eine Sklavin fehlte und einer seiner wilden Hunde totgeschlagen war, da sagte er: „Das hat gewiß ein mächtiger Schwertheld getan.“ Dann gab er strengen Befehl, nichts verlauten zu lassen und im geheimen der Sache nachzuforschen.

Zwei Jahre waren vergangen, und der Jüngling dachte nicht mehr an irgendwelche Gefahr. Als daher im Frühling

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_269.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)