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Er fragte sie nach ihrem Namen. Sie sagte, sie heiße Dschang und sei die Älteste.

Wie er sie so ansah mit ihrem mutigen Benehmen und ihren vernünftigen Worten, da merkte er, daß sie ein Heldenmädchen sei, und sie beschlossen, heimlich zu entfliehen. Das Wedelmädchen zog wieder Männerkleidung an; sie setzten sich auf Pferde und ritten weg. Sie wollten nach Taiyüanfu.

Am andern Tage kehrten sie in einer Herberge ein. Sie ließen die Betten zurecht rücken und stellten einen Kochherd auf, um ihr Mahl zu kochen. Das Wedelmädchen stand neben dem Bett und kämmte ihr Haar. Das Haar war so lang, daß es bis auf den Boden reichte und so glänzend, daß man sich drin spiegeln konnte. Li Dsing war gerade hinausgegangen, die Pferde zu bürsten. Da tauchte plötzlich ein Mann auf, der hatte einen roten, lockigen Schnurrbart wie ein Drache. Er war auf einem lahmen Maultier geritten, warf nun seinen Ledersack vor dem Kochherd auf die Erde, nahm ein Kissen und legte sich aufs Bett und sah dem Wedelmädchen zu, wie sie sich kämmte. Li Dsing erblickte ihn und ward zornig. Aber das Wedelmädchen hatte ihn sofort durchschaut. Sie winkte dem Li Dsing zu, daß er sich zurückhalten solle; dann kämmte sie rasch ihr Haar zu Ende und drehte es in einen Knoten.

Sie begrüßte den Gast und fragte ihn nach seinem Namen.

Er sagte, er heiße Dschang.

„Ich heiße auch Dschang,“ erwiderte sie, „da sind wir also Verwandte.“

Darauf verneigte sie sich vor ihm als ihrem älteren Bruder.

„Wieviel Brüder seid ihr?“ fragte sie dann.

„Ich bin der dritte“, war die Antwort. „Und du?“

„Ich bin die Älteste.“

„Wie gut trifft es sich, daß ich heute eine Schwester gefunden habe“, sprach vergnügt der Fremde.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_261.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)