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hatte. Seine Kleider waren aus gestickter Seide, und er trug das Drachenquellenschwert um seine Hüften gegürtet. Er war dem Trunk und Spiel ergeben und hatte eine lose Hand. Wers mit ihm verdarb, der war nahen Unheils gewiß. Auch mischte er sich immer ein, wo unterwegs er Streitenden begegnete. So trieb ers jahrelang, und die ganze Gegend seufzte unter ihm.

Als einst ein neuer Amtmann in die Gegend kam, ging dieser erst im stillen auf dem Land umher und fragte nach des Volks Beschwerden. Da hörte er, es gäbe drei große Übel im Lande.

Darauf tat er grobe Kleider an und weinte vor der Tür Dschou Tschu’s. Der kam soeben aus dem Wirtshause, wo er sich betrunken hatte. Er schlug an sein Schwert und sang mit lauter Stimme.

Als er nach seinem Hause kam, da fragte er: „Wer weint denn da so jämmerlich?“

Der Amtmann sprach: „Ich weine ob der Not des Volks.“

Da sah Dschou Tschu ihn an und brach in lautes Lachen aus.

„Ihr irrt Euch, Freund“, sprach er. „Ringsum kocht der Aufruhr wie das siedende Wasser im Kessel. Nur unser Winkel hier ist ruhig und in Frieden. Die Ernte ist reich, und das Korn ist gut geraten, und jedermann geht fröhlich seiner Arbeit nach. Wenn Ihr von Not mir redet, gleicht Ihr dem Manne, der ohne Krankheit stöhnt. Wer seid Ihr überhaupt, daß Ihr, statt um Euch selbst, um andere Leute trauert, und was tut Ihr hier vor meiner Tür?“

„Ich bin der neue Amtmann,“ sprach der andere, „seit ich vom Wagen stieg, hab ich mich in der Gegend umgesehen. Ich fand die Sitten gut und einfach, und jeder hat genug zur Kleidung und zur Nahrung. Das alles stimmt genau, wie Ihr es sagt. Doch rätselhafterweise, wenn die Alten sich versammeln, so seufzen sie und klagen stets.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_250.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)