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Als er fertig gegessen hatte, nahm er noch einen Trunk aus einer Quelle, dann schleppte er sich mühsam weiter. Wie der Tag eben am heißesten war, da brach plötzlich ein heftiger Bergregen los. In der Eile vergaß er, was die Frau ihm anbefohlen hatte und öffnete den Schirm zum Schutze vor dem Regen. Da fiel seine Frau aus dem Schirm heraus, ganz nackt, auf die Erde.

Sie machte ihm Vorwürfe: „Du hast wieder nicht auf mich gehört. Nun ist das Unheil da!“

Rasch hieß sie ihn nach dem Dorfe gehen, um einen weißen Hahn, sieben schwarze Tassen und ein halbes Stück von rotem Nesseltuch zu kaufen.

„Spare die Silberstücke in der Tasche nicht!“ rief sie ihm noch nach.

Er ging ins Dorf, besorgte alles und kam wieder zurück. Die Frau zerriß das Tuch, machte einen Rock daraus und zog ihn an. Kaum waren sie einige Meilen gegangen, da sah man im Süden eine rote Wolke heraufkommen, rasch wie ein fliegender Vogel.

„Das ist meine Mutter“, sagte die Frau.

Im Augenblick war sie auch schon zu ihren Häupten. Da nahm sie die schwarzen Tassen und warf nach ihr. Sieben warf sie, und sieben fielen herunter. Da hörte man die Mutter in der Wolke weinen und schelten, dann verschwand sie wieder.

Wieder gingen sie etwa vier Stunden lang. Da hörten sie hinter sich einen Ton, wie wenn man Seide reißt, und schon sahen sie eine Wolke, schwarz wie Tusche, die dem Wind entgegen herankam.

„Wehe, das ist mein Vater!“ sagte die Frau. „Da gehts auf Leben und Tod. Der läßt nicht von uns ab. Aus Liebe zu dir muß ich nun die heiligsten Gebote verletzen.“

Mit diesen Worten nahm sie rasch den weißen Hahn, riß ihm den Kopf ab und warf ihn in die Luft. Da zerfloß die schwarze Wolke, und ihres Vaters Leichnam fiel, getrennt von seinem Kopfe, am Rand der Straße nieder. Da

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_235.jpg&oldid=- (Version vom 30.6.2020)