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Speise genossen. Verführerisch stieg ihm der Duft in die Nase, und er konnte sichs nicht versagen, die Eßstäbchen zu erheben. Seine Frau schielte nach ihm; er tat, als sähe er’s nicht.

Sie hustete bedeutungsvoll; er tat, als hörte ers nicht. Endlich stieß sie ihn unter dem Tisch mit dem Fuße an. Da erst kam er wieder zur Besinnung.

Er hatte noch nicht zur Hälfte ausgegessen und sagte: „Nun bin ich satt!“

Darauf ging er mit seiner Frau zusammen weg.

„Das ist eine schlimme Geschichte“, sagte seine Frau. „Du hast nicht auf meine Worte gehört, jetzt mußt du sicher sterben.“

Er aber glaubte noch nicht daran, bis er plötzlich im Leibe heftige Schmerzen spürte, die sich bald ins Unerträgliche steigerten, so daß er bewußtlos zu Boden fiel. Eilig hängte ihn nun seine Frau mit den Füßen nach oben und dem Kopf nach unten am Balken der Zimmerdecke auf und stellte eine Kohlenpfanne mit glühenden Kohlen unter seinen Leib und ein großes Gefäß mit Wasser, in das sie Sesamöl gegossen, vor das Feuer, gerade unter seinen Mund. Als nun das Feuer ihm tüchtig den Leib erwärmte, da gab es in seinem Innern ein donnerähnliches Geräusch, er öffnete den Mund und begann, sich heftig zu erbrechen. Und was für Sachen kamen da heraus! Durcheinander wühlten sich giftige Würmer, Tausendfüßler, Kröten und Kaulquappen hervor, die alle in dem Gefäß mit Wasser untertauchten. Darauf band sie ihn wieder los, trug ihn ins Bett und gab ihm Wein mit Realgar zu trinken. Da ward ihm wieder besser.

„Was du gegessen hast als Garneelen und Krebse“, sprach die Frau zu ihm, „das waren alles Kröten und Kaulquappen, und die Geburtstagsnudeln waren giftige Würmer und Tausendfüßler. Aber noch gilts vorsichtig zu sein! Die Eltern wissen, daß du nicht gestorben bist, sie werden sicher andere Ränke schmieden.“

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_232.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)