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und mutig wie niemand weit umher. Als der von der Geschichte hörte, nahm er eine schwere Axt zu sich und ging zu der Pagode. Dort versteckte er sich im Grase und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Als die Sonne eben untergegangen war, da kam ein Jüngling heran, der stampfte den Berg herauf. Plötzlich verwandelte er sich in einen Oger, breitete die Flügel aus und wollte fliegen. Da warf der Bruder seine Axt nach ihm und traf ihn an den Arm. Er stieß ein lautes Gebrüll aus, dann floh er in die westlichen Berge. Als der Bruder jedoch sah, daß die Pagode nicht zu ersteigen war, kehrte er zurück und verabredete sich mit einigen Nachbarn. Mit denen kam er am andern Morgen wieder, und sie kletterten in der Pagode empor. Die meisten Treppenstufen waren noch ganz gut erhalten, nur den obersten Teil hatte der Oger zerstört. Mit einer Leiter konnte man jedoch hinaufgelangen, und der Bruder holte seine Schwester herunter und brachte sie glücklich nach Hause zurück.

Seitdem hatte der Spuk ein Ende.


77. Der fliegende Oger

In Sianfu lebte ein alter Buddhistenmönch, der liebte es, durch einsame Gegenden zu wandeln. Auf seinen Wanderungen kam er an den Kuku-Nor. Da sah er einen dürren Baum, der war tausend Fuß hoch und viele Klafter dick. Innen war er hohl, so daß man von oben das Licht des Himmels hineinscheinen sah.

Er war einige Meilen weiter gegangen, da sah er von ferne ein Mädchen in rotem Rock, barfuß und mit entblößter Brust. Mit aufgelösten Haaren lief sie, schnell wie der Wind. Im Nu stand sie vor ihm.

„Erbarme dich mein und rette mir das Leben!“ redete sie ihn an.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_226.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)