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Der Knabe war schon frühe mit einem Mädchen aus dem Nachbardorf verlobt worden, und es war auch schon ein Tag für die Hochzeit bestimmt gewesen. In jener Nacht sah das Mädchen plötzlich einen Schüler an ihr Bett treten, der weinend ihre Hand ergriff und sprach: „Ich bin dein Bräutigam. Durch ein Unglück bin ich gestorben. Es tut mir leid, daß unsere Heirat nicht zustande gekommen ist. Heute komme ich, um Abschied von dir zu nehmen. Halte dich immer wert und vergiß mich nicht!“ Unter Tränen ging er weg. Von jener Zeit an sahen ihn auch andere Leute als Gespenst umgehen.

So war ein Monat vergangen. Da versammelten sich die Bauern zur Beratung. Sie sprachen: „Das darf man nicht länger mit ansehen.“ So beriefen sie denn einen Zauberer, um den Spuk zu bannen. Der Zauberer kam an das Grab und suchte sorgfältig die ganze Umgebung ab. Dann sprach er: „Dieser Knabe ist im Begriff, ein Geist der Dürre zu werden. Er hätte noch schlimmen Schaden getan. Zum Glück ist’s noch an der Zeit, und er läßt sich noch leicht bannen.“ Dann schnitzte er aus Pfirsichzweigen Nägel, die er an den vier Ecken des Grabes einschlug. Er schrieb mit roter Tusche Zaubersprüche und heftete sie an die Pfirsichnägel, so daß das Gespenst nicht heraus konnte. Dann ließ man einige Dutzend starke Männer kommen, die mit Spießen und Prügeln das Grab umstanden. Acht mutige Leute mußten dann das Grab öffnen. Als der Sarg ans Licht kam, war das vordere Brett aufgerissen. Durch die Öffnung sah man in den Sarg hinein, doch erblickte man den Leichnam nicht. Nur die beiden Schuhe sah man auf dem Boden des Sarges stehen. Der Leichnam selber hing an den Deckel des Sarges gedrückt in der Luft. Die Kleider hatte er ausgezogen, und sie lagen zusammengerollt auf dem Boden. Am ganzen Leibe waren weiße Härchen gewachsen. Man verbrannte nun den Leichnam. Und von jener Zeit an hörte der Spuk auf. Auch der Vater erholte sich wieder von seiner Krankheit.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_208.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)