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Leiche eines Mädchens aufgebahrt, und ihr Gesicht war mit einem weißen Papier bedeckt. Bei diesem Anblick erschraken die fünfe und wagten sich nicht hinein.

Der Wirt erklärte ihnen: „Das ist meine Schwiegertochter, die kürzlich verstorben ist. Mein Sohn ist fort, um einen Sarg zu kaufen, und noch nicht wieder da, darum ist sie noch aufgebahrt. Sonst hab ich keinen Platz zum Übernachten. Ihr müßt eben vorlieb nehmen.“

Die fünfe dachten: „Es ist schon dunkle Nacht und nirgends sonst ein Unterkommen. Da können wir schon eine Nacht hier verbringen. Wir sind ja auch zu fünft, und vor was sollten wir uns schließlich fürchten?“

So gingen sie denn miteinander in das Haus. Im Nebenzimmer war eine gemauerte Schlafstelle, die war groß und bequem. Der Wirt zündete eine Lampe an und brachte ihnen etwas zu essen. Nach dem Essen schliefen vier von ihnen, da sie rechtschaffen müde waren, sogleich ein. Der fünfte aber war ängstlich von Natur. Er legte sich auf die Seite, aber konnte nicht schlafen. Plötzlich hörte er im Nebenzimmer vom Bett der Leiche her ein knitterndes Geräusch. Er machte die Augen auf und blickte hin. Da sah er, wie der Schein der Lampe völlig grün geworden war. Und schon stand auch das Mädchen auf und kam in das Zimmer herein. Sie blies seinen vier Kameraden allen ins Gesicht. Er war starr vor Schrecken, und weil er keinen Ausweg sah, zog er die Decke über das Gesicht und blieb zusammengekrümmt liegen. Die Leiche wandte sich ihm zu. Sie neigte den Kopf und blies ihn an. Dreimal blies sie; dann ging sie wieder hinaus. Er hörte, wie das Bett krachte, öffnete die Decke und blickte verstohlen nach ihr hin. Da lag die Leiche wieder ausgestreckt mit dem Gesicht nach oben. Nun stieß er mit dem Fuß seine Kameraden an; kein einziger wachte auf. Er schüttelte sie am Arm; keiner regte sich. Er hörte genau hin; ihr Atem ging nicht mehr. Da merkte er, daß seine vier Kameraden tot waren. Es überfiel ihn eine entsetzliche Angst, und er dachte, es sei vielleicht

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_204.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)