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Leichnam aufsteht. Die alten Leute erzählen, ein Leichnam stehe auf, wenn ihn der Atem lebendiger Menschen trifft oder Hund oder Katze ihn beschnüffelt. Dann richtet er sich auf. Sitzt der Mensch, so setzt sich auch der Leichnam, steht der Mensch, so stellt sich auch der Leichnam auf die Beine. Läuft der Mensch in seiner Angst davon, so läuft der Leichnam ihm nach, wie von einer geheimen Kraft angezogen. Doch können solche Leichen nicht sprechen.

Man sagt, solange ein Leichnam noch nicht im Sarge liege, dürfen die Leute, die die Totenwacht halten, nicht mit der Leiche Fuß gegen Fuß sich zum Schlafe niederlegen. Denn während der Mensch schläft, kreist die Kraft des Lichten in seinem Körper bis hinab zu den Fußsohlen. Stößt er dann zufällig an den Fuß der Leiche, so strömt die Kraft des Lichten in den Leichnam ein und mischt sich dort mit der Kraft des Trüben, so daß die Leiche ein scheinbares Leben erhält.

Es kommt auch vor, daß Leichen, die schon begraben sind, nicht verwesen und bei Nacht aus dem Grab kommen und umgehen. Das sind die Gespenster. Wenn es lang dauert, so verwandeln sie sich allmählich in Geister der Dürre, die lang anhaltende Trockenheit verursachen können. Wenn am Himmel Wolken aufsteigen und es regnen will, so nimmt der Geist der Dürre einen Besen und kehrt die Wolken zusammen, daß sie auf seinem Grab sich sammeln. Dann wird der Himmel wieder klar, und die Sonne kommt wieder heraus. Um diese Geister der Dürre zu erkennen, gibt es ein bestimmtes Mittel: Man forscht nach, ob unter den Gräbern der in der Nachbarschaft kürzlich Beerdigten eines ist, auf dem Regenfeuchtigkeit liegt, während ringsum alles trocken ist. Das muß es sein. Die Ältesten versammeln dann die ganze Mannschaft; man öffnet das Grab und macht den Sarg auf. Wenn man dann sieht, daß die Leiche nicht verwest ist, sondern weiße und grüne Haare auf ihr wachsen, so wird sie mit Stöcken kräftig

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_202.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)