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also daß die Tränen wie eine Perlenschnur ihr aus den Augen fielen. Das Gespenst runzelte die Stirn und zischte, als fürchte es, seine Beute zu verlieren. Nach einer kleinen Weile war das Kind fest eingeschlafen, und die Frau begann wieder, nach oben zu blicken. Dann erhob sie sich, stieg auf die Bank und war eben im Begriff, mit der Hand die Schlinge um den Hals zu legen, als der Soldat laut zu schreien und gegen das Fenster zu trommeln begann. Er schlug es entzwei und stieg ins Zimmer hinein. Die Frau fiel zu Boden und das Gespenst verschwand. Der Soldat brachte die Frau wieder zum Bewußtsein. Er sah von dem Balken einen Strick herunterhängen, wie eine Schleife ohne Ende. Weil er wußte, daß er dem Gespenst der Gehängten gehörte, nahm er ihn an sich.

Dann sprach er zu der Frau: „Gib gut acht auf dein Kind! Man hat nur ein Leben zu verlieren.“

Damit ging er hinaus.

Es fiel ihm ein, daß sein Gepäck und sein Esel noch im Tempel waren. So ging er hin, es zu holen. Als er vors Dorf hinauskam, da stand auch schon das Gespenst auf dem Weg und wartete auf ihn.

Sie verneigte sich und sprach: „Seit vielen Jahren such ich schon nach einer Stellvertretung, und heute, da es so weit war, habt Ihr mir das Geschäft verdorben. Da ist nichts mehr zu machen. Doch ich habe ein Ding, das ich in der Eile zurückgelassen habe. Sicher habt Ihr’s gefunden. Darf ich bitten, mir’s zurückzugeben! Wenn ich nur dieses Ding habe, so macht mir’s nichts, daß ich keine Stellvertretung finde.“

Da zeigte ihr der Soldat den Strick und sagte lachend: „Das ist wohl jenes Ding? Aber wenn ich dir’s zurückgebe, so wird sich sicher jemand erhängen. Das kann ich nicht dulden.“

Mit diesen Worten wickelte er den Strick sich um den Arm, trieb sie weg und sprach: „Geh! Geh“!

Nun wurde die Frau zornig. Ihr Gesicht wurde grün-schwarz,

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_200.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)