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66. Die Geister der Erhängten

Der große Dichter Su Dung Po liebte es, von Geistern zu erzählen; doch hatte er selber keinen je gesehen. Ein anderer namens Yüan Dschan hat eine Abhandlung geschrieben, daß es keine Geister gebe. Da kam eines Tages ein Gelehrter und begehrte ihn zu sehen.

„Seit alten Zeiten“, fing er an, „gibt es wahre Geschichten von Göttern und Geistern. Wie kommt Ihr nur dazu, daß Ihr sie leugnet?“

Da setzte ihm Yüan Dschan vernunftgemäß die Gründe auseinander, so daß ein weiterer Widerspruch nicht möglich war.

Da wurde der Gelehrte böse.

„Ich bin doch selbst ein Geist“, sprach er.

Und ehe er ausgeredet, verwandelte er sich in einen Teufel mit grünem Angesicht und rotem Haar, erschrecklich anzusehen und fürchterlich. So sank er in die Erde und verschwand.

Nicht lange drauf, da starb Yüan Dschan.

Von Geistern gibt’s gar viele Arten. Doch die Geister der Gehängten sind die schlimmsten. Diese Geister sind meistens Frauen und stammen gewöhnlich aus armen Familien auf dem Lande. Die törichten Bauernweiber, wenn sie von ihrer Schwiegermutter schlecht behandelt werden oder Hunger leiden müssen und viele Arbeit haben, sind oft mit ihrem Schicksal unzufrieden. Oder sie kommen in Streit mit ihren Schwägerinnen, oder sie werden von ihren Männern beschimpft. Dann sehen sie nicht mehr hinaus und machen aus Verzweiflung ihrem Leben ein Ende. Oft kommt es vor, daß sie Gift nehmen oder in den Brunnen springen. Am häufigsten jedoch erhängen sie sich selbst. Die Großväter und Alten wissen zu erzählen, daß die Geister der Gehängten immer andere Frauen verlocken, sich

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_197.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)