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war in seinem Gefolge. Der Wirt der Herberge war Pächter im Hause des Wang.

Dung fragte ihn: „Als Herr Wang verschied, ist da nichts Sonderliches vorgekommen?“

„Es ging sehr unheimlich zu,“ antwortete der Wirt, „und meine Mutter, die in dem Hause viel zu tun hat, kam heim und verfiel in eine hitzige Krankheit. Sie war einen Tag und eine Nacht bewußtlos; ihr Atem war fast nicht mehr zu spüren. Sie kam wieder zu sich, gerade an dem Tag, als die Nachricht von dem Tode des Herrn Wang bekannt wurde. Sie erzählte: ,Ich bin in der Unterwelt gewesen und begegnete ihm dort. Er schleppte Ketten am Halse und wurde von mehreren Teufeln vorwärts gezerrt. Ich fragte, was er denn getan habe.‘ Er sagte: ,Ich habe jetzt keine Zeit, es zu erzählen. Wenn du zurückkommst, frage meine Nebenfrau, so wirst du alles erfahren.‘ Meine Mutter ging nun gestern hin und forschte nach. Unter Tränen erzählte die Frau: ,Unser Herr war lange Beamter, doch kam er nicht voran. In Nanking war er Vorsteher des Getreidewesens, da war auch ein hoher Offizier, der mit unserem Herrn sehr vertraut war. Sie hatten sogar einander Brüderschaft zugeschworen. Er kam damals immer zu uns ins Haus, und sie tranken und plauderten miteinander. Eines Tages fragte ihn unser Herr: Wir Verwaltungsbeamten haben ein hohes Gehalt und auch sonst ein gutes Einkommen. Du bist Offizier, hast schon die zweite Rangstufe; aber dein Gehalt ist so niedrig, daß du unmöglich damit auskommen kannst. Hast du nebenher noch andere Einkünfte? – Der Offizier erwiderte: Wir stehen so gut miteinander, daß ich schon offen mit dir reden kann. Wir Offiziere sind darauf angewiesen, uns Nebeneinkünfte zu verschaffen, um unsere Taschen ein bißchen zu füllen. Bei der Auszahlung des Soldes machen wir kleine Kursgewinne; auch führen wir mehr Soldaten in den Listen, als wirklich da sind. Wollten wir nur von unserem Solde leben, so müßten wir Hungers sterben. –

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_186.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)