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Die Frau begann zu schluchzen und erzählte: „Das Glück hat mich verlassen; ich kam in Not und Schande. Da Ihr die Freundlichkeit habt, mich zu fragen, will ich Euch offen alles sagen. Ich bin die jüngste Tochter des Drachenfürsten vom Dungting-See und war verheiratet an den zweiten Sohn des Drachenkönigs von Ging Dschou. Mein Gatte aber war leichtsinnig und hielts mit einer ränkevollen Magd. So hat er mich verstoßen. Ich klagte meine Not den Schwiegereltern, die aber hatten eine blinde Liebe für den Sohn und taten nichts. Als ich sie dringender noch bat, da wurden beide böse, und ich ward hier herausgeschickt und muß die Schafe hüten.“ Als sie ausgeredet hatte, brach sie vor Schmerz in lautes Weinen aus und konnte sich gar nicht mehr fassen. Dann fuhr sie fort: „Der Dungting-See ist so weit von hier, doch habe ich erfahren, daß Ihr auf Eurer Heimreise dort vorbeikommt. Ich möchte Euch einen Brief an meinen Vater mitgeben; ich weiß nicht, ob es angeht?“

Liu I erwiderte: „Eure Worte haben mich im tiefsten Herzen gerührt. Ich wollte, ich hätte Flügel und könnte mit Euch von dannen fliegen. Den Brief an Euren Vater will ich gerne überbringen. Doch der Dungting-See ist groß und weit, wie kann ich ihn da finden?“

„Am südlichen Ufer des Sees steht ein Orangenbaum,“ erwiderte die Frau, „die Leute nennen ihn den Opferbaum. Wenn Ihr dorthin kommt, müßt Ihr Euren Gürtel lösen und dreimal ihn gegen den Orangenbaum schwingen, so wird jemand erscheinen, dem mögt Ihr folgen. Wenn Ihr meinen Vater seht, so erzählt ihm, in welcher Not Ihr mich getroffen, und daß ich seine Hilfe heiß ersehne.“

Dann holte sie aus ihrem Busen einen Brief und gab ihn dem Liu I. Sie verneigte sich vor ihm und blickte seufzend nach Osten. Auch dem Liu I rollten unversehens die Tränen herab. Er nahm den Brief und steckte ihn in seinen Beutel.

Dann fragte er: „Ich verstehe nicht, warum Ihr Schafe hüten müßt. Schlachten die Götter denn auch Tiere?“

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_162.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)